Zwischen Urschrei und Schamanismus

Berlin ist mit Psychotherapeuten überversorgt / Neben den klassischen Therapien gibt es zahlreiche alternative Heilmethoden / Vielen Patienten fällt die Orientierung schwer  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Als er 20 war, entschloß sich der Student Fedor, sein osteuropäisches Heimatland zu verlassen. Er wanderte zusammen mit seiner Freundin nach Berlin aus. Dort kam er nur langsam mit seinem Studium voran. Außerdem fühlte Fedor sich als Ausländer diskriminiert. Die Trennung von der Freundin löste schließlich eine schwere Krise aus. Fedors Hausarzt überwies ihn an einen Psychiater, aber dessen medikamentöse „Muntermacher“ halfen ihm nicht. Fedor ging zu einem Psychoanalytiker. Nach einigen Monaten konnte er sein Studium wieder aufnehmen, Depression und Motivationsschwäche waren überwunden.

Dorothea Pachur hält dagegen wenig von Psychoanalyse. Bei ihrem Sohn, der an einer schweren Psychose leidet, löste eine psychoanalytische Therapie einen schweren Anfall aus. Der Patient mußte stationär behandelt werden. „Bei Adam und Eva anzufangen, das bringt nichts“, meint Frau Pachur heute. Inzwischen ist sie Mitglied im Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker. Wer nicht weiß, für welche Therapie er sich entscheiden soll, kann sich in einer der Selbsthilfegruppen des Verbands beraten lassen.

Die „richtige“, erfolgversprechende Therapie zu finden ist für Patienten eine fast unlösbare Aufgabe. Das Angebot ist unüberschaubar groß, besonders in Berlin. Das Statistische Landesamt hat 1993 allein 753 Psychotherapeuten mit Heilpraktikererlaubnis in Berlin registriert. Dazu kommen Hunderte von Psychotherapeuten ohne diese Zusatzqualifikation. „Im Westteil Berlins gibt es im Verhältnis zur Bevölkerung dreimal soviele analytisch ausgebildete Psychotherapeuten wie in Westdeutschland“, schätzt Professor Hans Henning Studt von der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie: „Die Stadt ist überversorgt.“

Einen möglichen Grund dafür sieht die Berliner Psychologin Erdmuthe Kunath in der Anziehungskraft der Stadt auf die alternative Szene: „Aus dieser Szene rekrutieren sich viele Therapeuten und auch eine Reihe von Patienten.“ Erdmuthe Kunath hat sich auf die verhaltenstherapeutische Behandlung von Ängsten spezialisiert. Erfolgreich ist dieser Ansatz zum Beispiel bei Agoraphobie, der Angst vor öffentlichen Plätzen. Die verhaltenstherapeutische Methode, sich den angstauslösenden Dingen oder Situationen schrittweise zu nähern, hilft vielen ihrer Patienten. „Einige von denen“, sagt Kunath, „haben vorher schon quer durch den Garten Therapien gemacht.“

Die Krankenkassen böten zu wenig Beratung an, meint die Psychologin. Denn Patienten bekämen von den Kassen bloß Listen mit den Namen von Psychotherapeuten in die Hand gedrückt. „Aber gerade diese Therapeuten sind sehr überlaufen, und die Patienten kommen selten zu dem, der für sie der Richtige ist. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich durch die Anzeigen in den Stadtmagazinen vorzubaggern.“

Dort wird eine Vielzahl verschiedener Heilmethoden angeboten. Auf dem Psycho-Wühltisch liegen etwa die Primärtherapie, bekannt durch den „Urschrei“, oder die analytische Psychotherapie nach C.G. Jung, die nach dem „kollektiven Unbewußten“ in der Seele gräbt. Noch viel größer ist das Angebot im alternativ-esoterischen Bereich. Während sich „Psychotherapeut“ nur nennen darf, wer ein abgeschlossenes Medizinstudium und eine Zusatzausbildung absolviert hat, ist die Berufsbezeichnung „Therapeut“ nicht geschützt.

Und so tummeln sich Scharen von privat ausgebildeten Atem-, Ayurveda- und Yin-Yang-Therapeuten in Berlin. Schamanismus- Experten halten im „Zyklus des zunehmenden Mondes“ Heilkreis- Camps ab. „Wir feiern und halten an den nahegelegenen altgermanischen Kraftplätzen nächtliche Zeremonien ab“, verheißt das Informationsblatt. Anderswo kann man ins „gnostische Lichtfeld“ eintauchen, sich aromatherapeutisch beduften lassen, in Trance verfallen. Durch Trommelworkshops, Handauflegen („Reiki“), Feuerlauf, Schwitzhütten und „Gedankenheilung“ sollen psychische und körperliche Leiden gelindert werden. Von solchen Praktiken wendet sich Professor Studt mit Grausen: „So etwas ist für mich keine Psychotherapie.“

„Diese Sachen muß man differenziert sehen“, meint dagegen Erdmuthe Kunath. Schließlich versprechen alternative Therapeuten nicht die Heilung konkreter psychischer Krankheiten, sondern eine allgemeine Hebung des Wohlbefindens und einen Gewinn an Motivation und Energie. „Wir verstehen uns nicht als Konkurrenz zur Psychotherapie“, sagt Henri de la Motte vom Lotus Verein, der eine Reihe von esoterischen Veranstaltungen koordiniert. „Aber die Ärzte sehen uns als Konkurrenten – denn wir sind letztendlich viel billiger.“ Ein Schamanismus- Wochenende kostet mit 260 DM ungefähr soviel wie zwei Stunden beim Psychotherapeuten. Er selbst, meint de la Motte, sei durch Yoga „energiereicher“ geworden. Bei vielen Kursteilnehmern sei dagegen die Erwartungshaltung einfach zu groß. „Schließlich heilt jeder Mensch sich im Grunde selbst.“