Erfolgreiche Provinztarnung

Avantgardetheater in Deutschland I: Pumpenhaus Münster, Forum der neuen Theatergeneration  ■ Von Arnd Wesemann

Die Kampnagelfabrik in Hamburg, das Podewil in Berlin und das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt sind die drei größten Produktionsstätten des freien Theaters in Deutschland. In den letzten Jahren verabschiedete sich das Podewil von der FDJ, Kampnagel und Mousonturm entfernten sich immer weiter von den Alt-68ern. Damit begann der Wertewandel. Die Theater wurden der Festivalisierung des freien Theaters bezichtigt, als „postmodern“-beliebige Spielstätten bezeichnet.

Festivals dienen dazu, daß Künstler durch Tourneen leben können, dagegen läßt sich nichts sagen. Allerdings gestalten viele dieser Spielstätten ihr Programm in der Tat beliebig: Manche Programmverantwortlichen gestehen verblüffend offenherzig ihren Mangel an ästhetischem Know- how ein. Ihre Unkenntnis hat mit der Unsicherheit gegenüber einem Publikum zu tun, das einst vom konservativen Stadttheater zu den „Freien“ abwanderte und das sich nun – von den „Freien“ schnell abgestoßen – erneut dem Stadttheater zuwenden will. Anlaß, den Begriff des „freien Theaters“ zu revidieren: nicht Amateurtheater, sondern Künstlertum, Unverwechselbarkeit, Erfinder- und Forschergeist sind Merkmale, die auf dem längst internationalen Parkett ihrer „Festivalisierung“ Gültigkeit besitzen.

Vor allen Dingen Neuentdeckungen

Nur wenige Gruppen in Deutschland können diesen Künstlerbegriff einlösen. Wie auch? Schon fast vergessen ist, daß sich noch bis vor kurzem die freie Theaterszene gegenüber den avancierten internationalen Entwicklungen des Theaters weder öffnen noch ihnen standhalten konnte: der Knebel der lokalen Theaterkonkurrenz saß zu fest. Jeder spuckte in des anderen Suppe. Weit vor der Kunst kam die interne Gruppendynamik. Sie bewirkte auch, daß der internationale Kulturaustausch zur Einbahnstraße wurde. Zwar fuhren spanische Gruppen nach Deutschland, doch welche deutsche Gruppe wurde umgekehrt nach Spanien eingeladen? Nur kleine Häuser in Deutschland setzten auf riskante Entdeckungen – mal in Großstädten (wie die Moltkerei in Köln), mal in der Provinz. Dort, im Pumpenhaus in Münster, gibt es für die neuen Theaterformen noch heute eine besonders feine Brutstätte.

Auf den ersten Blick sieht zwar auch der Spielplan des Pumpenhauses aus wie der vieler anderer „alternativer“ Theater: eine Melange aus lokalen Amateurbühnen und kleinem Tanztheater. Provinzkultur, wie sie in Berlin und allerorten zu finden ist. Doch anders als anderswo sitzt im Pumpenhaus ein Theaterkenner vom Format des großen „Theatergaleristen“ wie Tom Stromberg in Frankfurt oder Elisabeth Schweeger in München: Ludger Schnieder, 38 Jahre alt, war 1985 Mitbegründer des Pumpenhauses in Münster und fungierte seither als Verantwortlicher des Gastspielbereichs. Bis zu vier Gruppen in sechs Wochen gastieren bei ihm: In aller Regel sind sie Neuentdeckungen, und sie müssen sogar, wie Schnieder sagt, „Entdeckungen sein, denn sobald Kampnagel mit seinem höheren Budget diese Gruppen einlädt, kann ich sie nicht mehr bezahlen. Ich bin gezwungen, schneller zu sein und sie zuerst zu entdecken.“

Ludger Schnieder, ein Ex-Schauspieler, der in Adolf Winkelmanns berühmtem Film „Die Abfahrer“ eine Hauptrolle spielte, stellte 1985 die dänischen Gruppen Odin Theater und später Hotel Pro Forma in Deutschland vor; er machte 1986 auf den heute weltbekannten Saburo Teshigawara aufmerksam und holte die beiden legendär gewordenen japanischen Gruppen „Dump Type“ und „Molecular“ nach Deutschland. Er war 1989 einer der ersten, der das derzeit interessanteste deutsche Tanztheater von Wanda Golonka und VA Wölfl einlud.

Mit Witz gegen Sparbeschlüsse

Als hierzulande die flämischen Theaterstars Jan Fabre und Jan Lauwers bekannt wurden, fuhr Ludger Schnieder durch Belgien, weil er nicht glauben konnte, daß diese beiden Herren die wirklich einzigen seien, die das „Theaterwunderland“ Belgien hervorgebracht hat. Schnieder kam mit dem Ziehvater der flämischen Avantgarde, Jan Decorte, sowie mit „Stan“, „Dito-Dito“ und „Oud Huis Stekelbees“ aus Belgien zurück – Namen, die nur wenigen etwas sagen. Ihn stört das nicht, im ganz Gegenteil: „Das ist die Chance der Provinz; ich muß nicht wie Kampnagel fünf- bis sechshundert Leute anziehen, indem ich auf bereits bekannte Namen setze. Dafür ist das Pumpenhaus zu klein. Mit fast 200 Plätzen kann ich viel zielgerichteter und weit weniger opportunistisch die wirklich interessanten Gruppen suchen und auch einladen“ – trotz eines äußerst bescheidenen Etats.

Schnieder, der als 16jähriger beim Jungen Forum der Ruhrfestspiele politisches Theater spielte, in Boston bei einer jüdischen Theatergruppe über den Holocaust arbeitete und später in Japan sogar einen Mäzen fand, fühlt sich im 280.000-Seelen-Münster wohl. „Stell dir vor“, sagt er „ich würde in Hamburg die Kultursenatorin fragen, ob sie bei der Nato eben mal einen ganz bestimmten Transformator der Militärs für eine völlig abstruse Maschine einer völlig unbekannten japanischen Theatergruppe besorgen könnte. Ich käme nicht mal bis zum Vorzimmer, geschweige denn daß eine Kultursenatorin in Hamburg Beziehungen zu den Streitkräften hätte.“ Doch auf genau diesem Weg bekam er in Münster den wertvollen Transformator für die Gruppe „Dump Type“. Die Organisation der Gastspiele im Münsteraner Haus für freie, heimische Theatergruppen war, so Schnieder, der Versuch, sich in der theaterarmen Provinz über dasjenige Theater zu informieren, das es in Münster nicht gab: „Wir wollten wirkliche Künstler neben uns, wir wollten sie als Gäste empfangen und gut bewirten, um von ihnen lernen zu können.“

Die Suche nach neuen Gruppen, neuen Anregungen und neuen Impulsen, die von vielen Feuilletons bis heute verschmäht wird, führte dazu, daß Ludger Schnieder mittlerweile zu den gefragtesten Kennern dieser Next Generation des internationalen Theaters gehört – eigentlich nur ein Nebeneffekt des „Luxus, lernen zu wollen“. Die CDU-Oberen der westfälischen Stadt hatten für den Lernwillen der freien Kultur in Münster jedoch Verständnis. In nur sieben Jahren stieg die Subvention von 60.000 auf 600.000 Mark. Den jetzt drohenden Sparbeschlüssen begegnen die Münsteraner mit Witz: Eine Plakataktion unter dem Titel „Nackt im Wind“ mit solidarischen Slogans wie „Falschparken für die Kultur“ soll den städtischen Kultursäckel wieder füllen helfen.

Gäste aus anderen Theatern melden sich regelmäßig zu den Gastspielen in Münster oder schicken ihre Späher. Man weiß nie, welche Entdeckung Ludger Schnieder als nächstes aushebt, die – ein, zwei Jahre später – erfolgreich auf den Festivals der drei führenden Produzenten des freien Theaters touren wird.