Geier, Adler, Schauer, Schönheit

■ Zu Karl Heinz Bohrers Analysen der „Semantik ästhetischer Zeit“

„Alles, was geschieht, geschieht jetzt plötzlich, in diesem Augenblick.“ So könnte man Karl Heinz Bohrers ästhetische Kernmaxime zusammenfassen. Die „Plötzlichkeit“ macht laut Bohrer das Besondere der Zeit aus, die eigens der Kunst zukommt, im Gegensatz zur historischen Zeit, die aus der Vergangenheit für die Zukunft lernt und daher eine lineare Struktur besitzt.

Die Leistung der Kunst und Literatur sei es nun, die historische Zeit samt ihren politischen, sozialen, religiösen oder philosophischen Inhalten in ein „absolutes Präsens“ zu transformieren. So werde etwa der Topos der „Revolution“ in der Sprache der Romantik mißverstanden, wenn man ihn auf den Begriff eines „freiheitlich- humanitären Diskurses“ bringe. Vielmehr sei das „Revolutionäre“ in den „Aphorismen und Essays Friedrich Schlegels und Novalis' (...) politisch depotenziert zugunsten einer metaphorisch-poetologischen Bedeutung, die das Umschlägig-Ereignishafte, das sich im Jetzt andeutende Zukünftige im Sinne einer Tropen- und Rätselsprache meint, nicht aber den positiv politischen oder auch nur aufklärerischen Inhalt“.

Ästhetik statt Politik, die Temporalstruktur bringt es an den Tag. Ähnlich las Bohrer 1978 Ernst Jüngers „Stahlgewitter“ nicht als Kriegsberichterstattung, sondern als Überführung des Kriegsgrauens in die Zeitform einer „punktuellen Wahrnehmung“, in der „blitzartig Gefahr, Schrecken und Tod enthüllt werden“. Ästhetische Zeit, so die These auch seines neuesten Buches, kennt „keine absehbare, zu berechnende, mit Sinn begabte Zukunft, sondern ein jeweiliges Jetzt“. Damit wendet sich Bohrer energisch gegen alle reduktionistischen Theorien der Kunst, die in der „Geschichte“ den „eigentlichen Gehalt“ des Ästhetischen sehen und damit die spezifische Gestalt autonomer Kunst völlig verfehlen – wie dies etwa „herkömmliche und aktuelle literahistorische, literatursoziologische, diskurstheoretische, systemtheoretische“ Methoden laufend tun.

Was hat man sich nun aber unter diesem „absoluten Präsens“ vorzustellen? Es ist der Augenblick des Benjaminschen „Chocs“, der Moment des Schreckens, die Präsenz des Bösen, die Epiphanie des Grauens. Das Gefrieren der historischen Zeit im Augenblick von Angst und Terror bestimmt die Temporalstruktur einer „Ästhetik des Schreckens“, die Bohrer bei

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den durchaus handelsüblichen Experten findet: bei Baudelaire, Flaubert, Poe, Musil, Kafka, Breton, Aragon, Beckett, Bataille, Peter Weiss, Peter Handke und Arno Schmidt. Wo man sie jedenfalls vergeblich suchen würde, sei die deutsche, „nicht deutschsprachige“ wohlgemerkt, Literatur des 20. Jahrhunderts. Vor einigen Jahren polemisierte Bohrer unter Berufung auf das „Böse als ästhetische Kategorie“ gegen die literarischen Agenten des „gesellschaftlichen Guten“, allen voran Heinrich Böll und Günter Graß, deren ästhetisches Defizit im „moralisch- politischen“ Engagement einer säkularisierten Erbauungsliteratur liege. Deutschland und seine Autoren sind für ihn „juste mileu“, breiiges Mittelmaß. Anhand des nun akzentuierten Kriteriums der „ästhetischen Zeit“ des „absoluten Präsens“ gelingt es Bohrer, weitere Autoren einzureihen. Verfehlten neben Böll und Graß auch Hermann Broch und Thomas Mann das Böse („Nach der Natur“, 1988), so ist „beispielsweise“ in den historischen oder zeitgeschichtlichen Romanen Heinrich Manns, Lion Feuchtwangers, Erich Maria Remarques, Bertolt Brechts, Stefan Zweigs und Anna Seghers' die „Bedingung des absoluten Präsens nicht gegeben“.

Zeitromane versus Augenblicksmetapher

Damit wird nicht weniger entwickelt als ein gut geeichter Maßstab, der säuberlich die Spreu vom Weizen trennt. Die Zeit der ästhetischen Orientierungslosigkeit ist vorbei, wenn man wissen kann: „Zeitlosigkeit im Sinne eines kontemplativen Akts absoluter, partiell unbewußter, jedenfalls nicht ich-geleiteter Vergegenwärtigung von Zuständen, Vorstellungsbildern, Wahrnehmungsgegenständen ist (...) die gemeinsame Konstante der Augenblicks-Metapher innerhalb der Literatur der klassischen Moderne.“ Und weil besagte „Zeitromane“ leider nur „der Wiederholung zeitlicher Oberflächen verhaftet“ bleiben, fallen sie aus der Bohrerschen Absolutheits- Konstante und verdienen das Prädikat „klassisch“ nicht.

Die selbstreferentielle Sprachform einer Kunst des Ereignisses, des Erhabenen und des Schreckens entdeckt Bohrer bereits in der griechischen Tragödie. Gegen die Tradition von Aristoteles über Hegel bis zur neueren Altphilologie liest Bohrer die antike Tragödie „Agamemnon“, den ersten Teil der „Orestie des Aischylos“, als „moderne Epiphanie“. Auch im „Agamemnon“ liege „schon jener Modus des plötzlichen Schreckens vor“, wie er sonst nur unsere „gelungene“ Moderne prägt.

An Greueln mangelt es in der „Orestie“ nun wirklich nicht. Blutige Mordtaten sind das Schicksal aller Mitglieder des Herrscherhauses, Agamemnon opfert seine eigene Tochter, worauf ihn seine Frau Klytämnestra aus Rache regelrecht schlachtet, um schon bald darauf von ihrem Sohn Orestes hingerichtet zu werden. Dies alles ist im Mythos dieser wahrhaft interessanten Familie konserviert und dem athenischen Publikum wohlbekannt. Aischylos' Bearbeitung jedoch unterscheidet sich vom Mythos wesentlich, weil dessen sinnstiftende Leistungen literarisch gekappt werden.

Von der Subversion der (Be-)deutung

Als ein Beispiel für diese These dient Bohrer die Metaphorik von zwei majestätischen Raubvögeln, die „Achaias zweithronige Kronmacht, hellenischer Jugend/Einmütige Führung“ repräsentieren. Diese beiden Könige der Lüfte fallen nun aber über nichts Hilfloseres her als das Häschen in der Grube: „Sie verschlagen die Häsin, die trächtige, samt ihres Leibs Frucht.“ Eine weitere Metapher verblüfft mit ähnlichen Mitteln: Jene, „die in einsamer Qual um der Jungvögel Raub / hoch über dem Horst ihre Kreise ziehn“, sind keine anderen Vögel als „Geier“, die das tausendschiffige Heer symbolisieren, das die geraubte Helena aus Troja zurückholen soll.

„Äußere Erscheinung“, so Bohrer, „und innerer Zustand widersprechen einander.“ Aischylos schaffe damit eine „Inversion der Zeichenbedeutung – die Majestät schöner Gewalt, die Niedriges tut“, was herkömmliche Deutungszuweisungen „subversiv unterminiert“. Die Zuschauer der Tragödie „kannten die epischen Fakten“ und genossen daher die „Geheimnis- und Rätselstruktur“ der Szenen, welche die „grauenhaften Ereignisse von Vergangenheit und Zukunft“ zu „einem präsentischen Ereignis“ zusammenziehen: einer Epiphanie des Schreckens. Wenn Klytämnestra blutbespritzt dem Chor ihre unbändige Freude gesteht, „ich – jauchze auf vor Glück“, dann handelt es sich um die „Intensität“ einer „Ästhetik des Schreckens“.

Mit deutlicher, wenn auch unausgesprochener, Spitze gegen seinen Bielefelder Kollegen Luhmann spricht Bohrer der Tragödie im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts eine „ästhetische Selbstreferenz“ zu, deren Grad autonomer „Literarisierung“ erst in der Spätrenaissance und der dekadenten Moderne erneut erreicht werde. Damit wird das soziologische Dogma, autonome Kunst könne es vor der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft nicht geben, nachdrücklich attackiert. Ob mit Recht, ist immerhin fraglich, denn die „Orestie“ endet mit einem Rechtsstreit, in dem Orestes sich vor einem Athener Geschworenengericht für den Mord an seiner Mutter verteidigen muß. Ankläger sind die Erinnyen, die Göttinnen der Rache, die die Mordserie der Familie schon seit Generationen in Gang halten. Das Drama endet mit einem Freispruch Orestes, die Erinnyen danken angesichts des „Neuen Rechts“ ab. So enden letztlich Greuel und Schrecken in „Ordnung und Recht“ – vielleicht hat sich Bohrer daher mit der Deutung des ersten Teiles der Trilogie begnügt. Niels Werber

Karl Heinz Bohrer: „Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit“. Frankfurt/M. 1994, Suhrkamp Verlag, 184 Seiten, 18,80 DM.