Wenn Berlin zum Aufbau geht

■ Die Ausstellung "Die Stalinallee - Architektur und Alltag" beläßt das Symbol im Zerrspiegel des damaligen Bau-Alltags / Entlarven kann der Betrachter selbst

Man kann das östliche Identifikationsobjekt Stalinallee – alias Karl-Marx-Allee – durchrasen, entlangbrettern oder überfliegen. Nur eines kann man nicht: dort verweilen. „Vorwärts, Vorwärts! Schneller, Schneller!“ scheint es aus dem Asphalt und von den Mauern zu dröhnen, als klinge von dort der Rhythmus des „Aufbauliedes“ nach. Der 2,3 Kilometer lange Hard-core-Abschnitt des sozialistischen Städtebaus vom Strausberger Platz bis zum Frankfurter Tor ist eine Chiffre für Mobilität, ein Sinnbild tüchtig-deutschen Aufbauwunders, an dem nichts haften bleibt; nicht einmal die Kacheln aus Meißen an den Fassaden der in Windeseile zwischen 1952 und 1958 hochgezogenen Zeilen.

Die gestern eröffnete Ausstellung „Die Stalinallee – Architektur und Alltag“, die von der Berliner Architektenkammer und dem Institut für Regionalplanung in den Räumen neben der Karl-Marx- Buchhandlung vor Ort präsentiert wird, beläßt das bauliche Symbol einer neuen Gesellschaft im Zerrspiegel jenes atemlosen Bau-Alltags der Epoche. Die Entlarvung bleibt dem Besucher überlassen.

Was waren das für Zeiten: Revolution und Backsteinklopfen, Wohnungsbau für 3.000 Behausungen und Arbeitshelden, neue Stadt und selige Aufbruchmythen: „Die Hauptstadt Deutschlands neu entsteht/ Wenn ganz Berlin zum Aufbau geht“, hieß es damals. Technisches Gerät findet natürlich keine Ruhe: „Ich bin die sowjetische Planierraupe und helfe Euch beim Neubau“. Selbst jeder Stein erhält Bedeutung „für den Frieden und Fortschritt“. Dazwischen fröhliche Pioniere des Backsteins, der Tischlergeselle Walter Ulbricht als Wohnungsgott und eine 3-Zimmer-Wohnung für 70 Mark.

Dem Charme des Experiments und der Lebendigkeit der frühen Jahre der DDR, etwa der schnittigen „Aufbaukarte“ eines jeden der 45.000 freiwilligen Bauhelfer oder der Musik zum „Aufbauwalzer“ von Erwin Burkert, steht die ideologisierte Form der Bebauung kraß entgegen: 1951 erhielt die Stalinallee eine demonstrativ monumentale Form, die das Klischee sowjetischer Zuckerbäckerbauten der dreißiger Jahre nachbetete. Statt eines modernen funktionalen Wohnungsbaus wurde beim Wiederaufbau Ostberlins in den fünfziger Jahren das „nationale Erbe“ deutscher Architekturgeschichte materialisiert. Für ein hohles Pathos plünderte die Stalinallee, wo immer es ging.

Es entstand ein eklektizistischer Theaterprospekt. Aber nicht bei Schinkel, sondern bei Speer klauten die Architekten. Heraus kam eine Simulation aus Versatzstücken, eine riesige Bauattrappe, gewissermaßen ein „Knochen ohne Fleisch“, wie der Baugeschichtler Werner Durth einmal schrieb, dessen riesige Breite und strenge Axialität eine stadträumliche Leere erzeugen.

Das längste Baudenkmal steht heute wieder hoch im Kurs. Das veranschaulicht nicht zuletzt die Stalinallee-Show, sondern auch der tägliche Ruf nach dem steinernen Berlin, den großen Straßen oder dem teutonisch-preußischen Baustil. Berlin ist eben wieder beim Aufbau. Rolf Lautenschläger