■ Noch nie habe ich etwas wie Goma gesehen. Niemand hat.
: Menschen auf der Flucht

Wie so viele habe auch ich im Fernsehen zwei Landschaften betrachten können. Beide zeigen ein Meer von Menschen, Hunderte, Tausende, ja Millionen, die die Ebene bis zum Horizont bedecken. Eine der Landschaften ist eine der Vergangenheit, eine Versammlung ungeahnter Freude und Hoffnung. Die andere ist eine der Gegenwart, eine Ansammlung voller Verzweiflung. Die eine dreht sich um Jugend, um Lebenslust. Die andere betrifft den Tod. Die eine Woodstock, 1969. Die andere Goma, heute.

Nicht oft erkennen wir, die Menschheit, uns in solchen Massen. Wenn wir dies tun, erscheint uns die Sicht zuallererst abstrakt, so, als ob der alte Spruch, die ganze Welt könne genug Platz auf der Isle of Wight finden (ein wahrlich alter Spruch, weil es jetzt zu viele Menschen gibt, als daß alle Platz fänden), illustriert worden wäre. Es braucht eine enorme böse Kraft oder große Hoffnung, um so viele Menschen zusammenzubringen.

Einmal hatte ich Glück und konnte eine solche Versammlung der Hoffnung erleben. Es war im Juni 1979, als der Papst sich von seinen Schäfchen außerhalb Krakaus verabschiedete. Zwei Millionen waren gekommen, um ihm zu lauschen und für Polen zu beten. Sie hatten genug zu essen; sie hatten – genau wie die schönen, nackten Kinder Woodstocks – ein Zuhause, zu dem sie zurückgehen konnten. Und als sie sangen, war es nicht einfach laut. Die Erde zitterte leise, wie wenn ein Wind durch den Wald wehte.

Noch nie habe ich etwas wie Goma gesehen. Niemand hat das. Einmal führte mich meine Arbeit an die Grenze Simbabwes. Tausende Flüchtlinge aus dem Bürgerkrieg in Mosambik lagen dort unter Dornensträuchern. Sie und ihre Kinder starben, vor Hunger, Durst, aus Erschöpfung. Viele wurden gerettet, viele konnten nicht mehr gerettet werden. Es schien mir, als würden sie mit einer schrecklichen Demut sterben, still und leise, so als sänken sie zurück in die trockene Erde, die sie einst geboren hatte.

So wie die Millionen Menschen in Goma waren auch sie auf der Flucht. Selten denken wir über die Flucht an sich nach. Aber Flucht ist einer der Reiter der Apokalypse. Krieg, Pest und Hunger sind die Gründe, warum Menschen flüchten. Deswegen vergessen wir oft, daß Flucht selbst der übelste Schlächter von allen sein kann. Im vergangenen Jahrhundert entdeckte ein französischer Armeearzt, daß fast alle Soldaten an Rückenverletzungen gestorben waren. Erst wenn sie aus ihren Unterständen krochen und rannten, konnte sie der Gegner mit der Kugel, dem Bajonett oder der Kavalleriesalve treffen.

Einiges davon gilt auch für Zivilisten. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges flohen die Deutschen aus Ostpreußen vor der nahenden Roten Armee. Sechs Millionen konnten sich in Sicherheit bringen, aber eine Million, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, haben es nicht geschafft. Keine moderne Seuche und nur die schlimmste Hungersnot verursacht eine solche Todesrate. Die Menschen kamen auf viele Arten um: durch den Feind, ertrunken auf Flüchtlingsbooten, im Baltikum bombardiert, erfroren auf den Straßen des bitteren Winters 1945, an Typhus und Ruhr erkrankt, in verlassenen Konzentrationslagern, in denen sie Zuflucht suchten.

Aber wären sie zu Hause geblieben, die meisten hätten überlebt. Russen und Polen hätten sie später aus ihren Häusern vertrieben und unter schrecklichen Bedingungen gen Westen verjagt. Ihre Entscheidung zur Flucht jedoch brachte ihnen den Tod.

Wenige Briten, die hier geboren wurden, wissen, was Flucht bedeutet. Es gibt aber genug Immigranten, die meisten von ihnen schon älter, die dies kennen: Polen, Ukrainer oder jene, die sich an die Massenflucht nach der Teilung Indiens erinnern. Eine ganze Bevölkerung wird manchmal innerhalb weniger Tage von der Idee gepackt zu fliehen. In einigen dieser Fälle, etwa bei den Deutschen 1944–45, gab es offizielle Unterstützung hierfür: das nannte man „Evakuierung“, um alles weniger chaotisch erscheinen zu lassen.

Die Entscheidung zur Flucht scheint weniger rational als erwartet. Einerseits gibt es oft gute Gründe zu gehen. Die Hutu mußten nach ihrem Genozid an den Tutsi mit Gegenmaßnahmen rechnen. „Radio Mille Collines“ schürte diese Angst vor Rache und drängte auf Flucht. 1945 flohen viele Deutsche, weil sie von den Greueltaten russischer Truppen bei der Einnahme Ostpreußens gehört hatten. Andererseits werden viele Flüchtlinge von einer Woge kollektiver Panik ergriffen. Wenn fast alle gehen, wer will da schon alleine der unbekannten Zukunft harren?

Seltsam ist auch oft die Entscheidung, wohin man geht und was man mitnimmt. Früher wäre eine Landbevölkerung in die umliegenden Berge und Wälder gegangen. Heute machen die modernen Fernstraßen die Flucht linear – man flieht entlang von Straßen, die irgendwohin führen. Es ist so gut wie nie wahr, daß sich Menschen einfach auf den Weg machen, um nur wegzukommen. Der Gedanke an einen Weg ohne Ziel ist unerträglich. So setzt man sich ein Ziel, sei es auch noch so unrealistisch.

Die Menschen werden zum Bauernhof der Schwester 200 Kilometer entfernt laufen oder in ein sagenumwobenes UNO-Flüchtlingscamp gehen, wo Essen und ein Dach über dem Kopf warten. Sie wollen die Hauptstädte erreichen oder einen Hafen, wo Schiffe auf sie warten.

Vor fünfzig Jahren war meine Freundin Zosia noch ein kleines Mädchen. Damals wurde der Warschauer Aufstand nach 63 Tagen von den Deutschen zertrümmert. Die Aufständischen kamen in Gefangenenlager, die überlebenden Zivilisten trieb man aus der Stadt, um diese zu schleifen. Zosia durfte eine Puppe zum Mitnehmen aussuchen – „Ich wählte die, die mir am traurigsten erschien“.

Ihre Wahl sagt etwas Wichtiges über Flüchtlinge. Oft verlassen sie nicht ihr Zuhause, sie nehmen es mit. Sie verlassen die Orte voller Desaster und Unglück, nehmen aber all die symbolischen Dinge mit, um die sich Heimat konstituiert. Viele Familien haben Uhren, Fotoalben, Hochzeitskleider, die Medaillen des Großvaters im Gepäck. Oft landet alles im Graben, oder der Feind nimmt ihnen alles ab. Und dennoch geben diese Dinge der Flucht einen bestimmten Sinn: Sie wird nicht nur zum Wegrennen, sondern zu einer Art Migration, so als ob das eigentliche Heim so mobil sei wie ein Schneckenhaus.

Es gibt ein Gemälde Goyas über die Flucht. Da steht ein rasender Gigant, und unter ihm wogt eine Flut aus Menschenkörpern. Doch Flüchtlinge sind keine kopflose Masse. Es sind Individuen, die trotz alledem mit Hoffnung fliehen. Erst wenn ihre Reise aufgehalten wird, in solchen Sackgassen wie der Ebene von Goma endet, erst dann sind Heimat und Hoffnung ganz verloren. Neal Ascherson

Kolumnist beim britischen Independent on Sunday; den Text entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung des Autors der Ausgabe vom 31.7.94; Übersetzung: AS