BGH: Schreibtischtäter sind auch Täter

■ Verteidigungsrat verübte Totschlag

Berlin (taz) – Bei der Ahndung der Todesschüsse an Mauer und Todesstreifen sind nach Auffassung des Bundesgerichtshofs (BGH) nicht nur die Grenzschützen als Täter zu bestrafen, sondern auch die „Hintermänner“ selbst. Mit seinem gestrigen Grundsatzurteil sprach der BGH die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Heinz Keßler (74), Fritz Streletz (67) und Hans Albrecht (74), des Totschlags in Form der Täterschaft für schuldig. Das Landgericht hatte die alten Männer in der ersten Instanz lediglich wegen Beihilfe und Anstiftung bestraft.

Auf die Höhe der Strafen hat der Schuldspruch außer im Fall Albrechts keine Auswirkung. Bei ihm mußte die Strafe um wenige Monate angehoben werden, da die Mindeststrafe für Totschlag in Form der Täterschaft fünf Jahre beträgt. Keßlers und Streletz' Strafen (siebeneinhalb und fünfeinhalb Jahre) blieben unberührt. Alle drei haben einen Teil ihrer Strafe schon abgesessen und waren nach dem Urteil des Landgerichts vorübergehend auf freien Fuß gesetzt worden. Ihre Anwälte überlegen, ein Gnadengesuch beim Bundespräsidenten einzulegen.

Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister der DDR, Fritz Streletz, betonte nach dem Urteilsspruch: „Ich habe mich immer im Rahmen der Gesetze gehalten.“ Und: „Die historische Wahrheit wird sich noch durchsetzen. Einen Schießbefehl hat es zu keiner Zeit gegeben.“ Wie sonst wäre zu erklären, daß es in den Jahren von 1979 bis 1989 nur 17 Tote gegeben habe, obwohl 2.905 Grenzverletzer gezählt worden waren. Auch die PDS zeigte sich ungehalten über das Urteil. Es forciere zunehmend rechtliche Unsicherheit und erinnere „fatal an Rache und die Mentalität eines Siegerstaates“, heißt es in der Erklärung des Ehrenvorsitzenden Hans Modrow. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Jorg van Essen sieht das anders: Diesmal lasse sich „die alte Volkserfahrung, nach der man die Kleinen hängt und die Großen laufen läßt, nicht bestätigen“. Julia Albrecht Seite 4