Nicht Zwerg noch Troll, noch Heinzelmann

Kleinwüchsige Menschen aus aller Welt treffen sich derzeit in Köln, um ihre Lebensbedingungen zu diskutieren  ■ Von Bascha Mika

Berlin (taz) – „Kleine und große Leut', kleiner und großer Belt, kleines und großes ABC, Hänschenklein und Karl der Große, David und Goliath, Mann im Ohr und Gardemaß; ich blieb der Dreijährige, der Gnom, der Däumling, der nicht aufzustockende Dreikäsehoch blieb ich ...“ Oskar Matzerath hat es nicht nötig zu wachsen. Seit seinem dritten Lebensjahr ist er innerlich und äußerlich vollkommen und blechtrommelt sich durchs Leben, erzählt Günter Grass. Doch was wäre der kleine Oskar ohne seine Trommel?

Sie wollen nicht klein genannt werden, sondern kleinwüchsig. Und momentan trommeln sie kräftig. In Köln treffen sich zur Zeit kleinwüchsige Menschen aus aller Welt, um ihre Lebensbedingungen zu diskutieren. Es ist ihr 3. internationaler Kongreß. „Innere Größe zählt“, haben sie als Motto ausgegeben. Und auf das mitleidige Lächeln, das dieser Spruch bei den „Großen“ provoziert, pfeifen sie. Sie haben andere Probleme.

Diese sind so erschütternd praktischer Natur, daß einem jede märchenhafte Assoziation zu Zwergen, Wichteln, Trollen und Liliputanern vergeht. Die Beine zu kurz, um eine Treppe hinaufzusteigen, die Arme nicht lang genug, um an eine Türklinke heranzureichen. Keine Hose, keine Jacke von der Stange paßt, jedes Kleidungsstück muß auf Maß geschneidert werden. Kleinwuchs ist eine Wachstumsstörung, deren Ursachen nur teilweise bekannt sind. Als kleinwüchsig gilt, wer weniger als 1,50 Meter mißt. Doch viele Betroffene sind nur um die 100 Zentimeter. Für sie ist jeder Briefkasten, jeder Klingelknopf, jedes öffentliche Telefon in unerreichbarer Höhe.

„Allein um den Alltag zu bewältigen“, berichtet Uta Gramatzki (1,32 Meter), „müssen wir wesentlich mehr leisten als Durchschnittsmenschen.“ Handgriffe in einer genormten Küchenzeile dauern doppelt, Fußwege dreimal solang. Zwischen fünfzig- und hunderttausend Kleinwüchsige leben in der Bundesrepublik. Genaue Zahlen kennt niemand. Viele Kleinwüchsige werden von ihren Familien regelrecht versteckt. Der Gnom ist ein Makel.

Läuft er frei herum, wird er angestarrt: Mit Scheu, Neugierde und Sensationslust. Kommt der aus'm Zirkus? Erst 1977 wurde im offiziellen Sprachgebrauch der Begriff „Zwergwuchs“, der eine eigene Spezies suggeriert, durch „Kleinwuchs“ ersetzt. Doch als Clowns werden diese Menschen oft trotzdem behandelt.

Klein = dumm, ein gängiges Klischee

Die meisten Kleinwüchsigen verfügen über eine normale Intelligenz. Doch klein = dumm ist ein gängiges Denkschema. In Kindergärten, Schulen und am Arbeitsplatz. Wenn Eltern nicht protestieren, landet ein klein geratenes Kind sehr schnell auf der Sonderschule, Arbeitgeber weigern sich, Kleinwüchsige auszubilden und anzustellen.

„Das find' ich aber toll, daß du schon alleine einkaufen kannst“, lobte eine Kassiererin im Supermarkt einmal Uta Gramatzki. Da war die Kartographin 28 Jahre alt. „Das ist ein harmloser Fall, denn die Verkäuferin hat nur nicht richtig hingesehen“, amüsiert sich Gramatzki. Viel schlimmer sei, daß man in einer Gruppe regelmäßig übersehen und bei Gesprächen übergangen werde. Und dann noch dieser abschätzige, verachtende Blick, der das tägliche Leben mit Spießruten spickt. „Du mußt dagegen powern und dir ein Schale anlegen, sonst wirst du verrückt.“

Braucht ein Kobold Sex? Kleinwüchsigen wird eingeredet, daß Liebe und Sexualität „nichts für sie sind“. Für Normalwüchsige sind sie selten attraktiv, „gemischte Paare“ sind in der Bundesrepublik sehr selten. „Viele von uns werden zum Verzicht erzogen“, sagt Uta Gramatzki, werden verschüchtert und gehemmt, daß sie es selbst mit Freundschaften schwer haben.“ Bei jedem Treffen von Betroffenen, auch auf dem Kölner Kongreß, wird deshalb viel Wert auf soziale Kontakte gelegt.

In einer Umwelt, die für eine durchschnittliche Körpergröße von 1,70 bis 1,90 Meter konstruiert ist, leben Kleinwüchsige als Behinderte. „Sich als behindert zu begreifen bedeutet, die Ausgrenzung mitzudenken“, weiß Gramatzki. Das ist eine psychische Hemmschwelle, bringt aber finanzielle Vorteile. Tatsächlich leiden viele Kleinwüchsige unter Beschwerden durch Knochendeformationen oder körperliche Überlastung.

Wer unter 1,30 Meter ist, hat Anrecht auf einen Schwerbeschädigten-Ausweis. Das ist dem „Verein kleinwüchsiger Menschen e. V.“ mit Sitz in Hamburg zuwenig. Er fordert den Schwerbehinderten-Status bis zu 1,50 Meter. Daß Telefone, Geldautomaten, Liftknöpfe und ähnliches tiefergesetzt und öffentliche Verkehrsmittel behindertengerecht gebaut werden.

„Was nützt es, daß Behinderte im Nahverkehr umsonst fahren dürfen“, ärgert sich Gramatzki, „wenn sie Busse und Bahnen gar nicht betreten können?“ Sie stellt aber fest, daß sich durch die Lobby-Arbeit der verschiedener Behindertenverbände bereits vieles positiv verändert hat.

Auf dieser Schiene muß es laufen, denkt Gramatzki. Gar nichts hält sie davon, wenn Kleinwüchsige sich durch wiederholte Operationen künstlich vergrößern lassen. „Es geht nicht darum, daß wir uns ändern, sondern die Umgebung.“

Schließlich war auch der kleine Oskar Matzerath innerlich und äußerlich vollkommen fertig und hatte es nicht nötig, „von Jahr zu Jahr größere Schuhe und Hosen zu tragen, nur um beweisen zu können, daß etwas im Wachsen sei“.