Schau mir in die Augen

■ Gesichter der Großstadt: Der etwas andere Augenarzt Wolfgang Schultz-Zehden therapiert nach der Devise: Wenn die Augen leiden, ist die Seele krank

Das Auffälligste an Dr. med. Wolfgang Schultz-Zehden sind die Augen. Sie stechen wasserblau unter den buschigen Augenbrauen hervor, sind groß wie ein Zweimarkstück und suchen stets den Blick des anderen. Es könnten problemlos die Augen eines 35jährigen sein. Aber sie sind es nicht. Der Doktor der Medizin feierte im Juni zum 75. Mal seinen Geburtstag.

Wie lange er noch praktizieren will, weiß Schultz-Zehden senior nicht, der seine weitläufige und helle Altbau-Praxis mit einem befreundeten Ophtalmologen teilt, wie Augenärzte griechisch-neulateinisch genannt werden. So kann er, das einstige schwarze Schaf der Zunft, sich ganz dem „ganzheitlichen Augentraining“ widmen. Schultz-Zehden findet diese Bezeichnung fürchterlich, doch einen besseren Ausdruck hat er bis heute nicht gefunden.

Der junge Alte ist ein besonderer Augenarzt: Er hält nicht viel von Kollegen, die im Eilverfahren Brillen und Kontaktlinsen verschreiben und denen der Seelenzustand ihrer Patienten schnuppe ist. Ihn interessieren viel mehr die Gründe für Kurz- und Weitsichtigkeit, für Silberblick und Grünen Star. Seit nun über 30 Jahren forscht er in der Tiefe anderer Leute Psyche und therapiert bei Bedarf. Dadurch hat er die Augenheilkunde ein klein bißchen revolutioniert, was ihm nicht mehr nur Kollegen-Neid verschaffte. „Ich stehe schon ein bißchen im Rampenlicht“, definiert er seinen gewandelten Status.

Tatsächlich haben ihm seine Vita und seine Botschaft „Wenn die Augen leiden, ist die Seele krank“ ein wenig zu Ruhm und viel zu Anerkennung verholfen. Erst im Mai wurde er auf dem Berliner Ärztekongreß im ICC vor 12.000 Medizinern für seine Forschungs- und Weiterbildungs-Programme mit der Ernst-von-Bergmann-Plakette ausgezeichnet, einer Art Bundesverdienstkreuz für Augenärzte.

Bis Anfang der sechziger Jahre arbeitete Schultz-Zehden wie alle anderen Augenärzte auch: unspektakulär schulmedizinisch. 1948 hatte er als Oberarzt die Augenklinik der Freien Universität aufgebaut und drei Jahre später eine eigene Praxis in Kreuzberg gegründet. Dort, am Mehringdamm, empfängt er auch heute noch seine Patienten.

Mit 42 Jahren jedoch wurde er von einer mittelschweren Midlife- crisis erfaßt. Der arrivierte Arzt zweifelte stark an dem, was er tat, und konnte keinen Sinn mehr darin erkennen, Kurzsichtigen nach einem fünfminütigen Sehtest Kontaktlinsen zu verpassen. „Das Auge ist so sensibel und diffizil gebaut, da muß noch mehr dahinterstecken“, dachte er damals. Schließlich könne das „Lichtsinnesorgan“ nicht nur ein rein optisches sein, wenn es auch Traumbilder produziert. Und woher kommen Sprüche wie „Da seh' ich aber schwarz“, „Mach doch mal deine Augen auf“, „Ich kann dich nicht mehr sehen“?

Um dem Geheimnis des Auges auf die Spur zu kommen, absolvierte Schultz-Zehden psychotherapeutische und -analytische Weiterbildungen. Die erweiterten seinen Horizont mächtig. Wer seitdem von ihm behandelt wird, muß selbstverständlich zuerst auch den Kleine-und-große-Zahlen-Erkennungstest passieren – um herauszufinden, ob jemand kurz oder weitsichtig ist. Wo indes bei anderen Augenärzten die Behandlung mit einem Brillenrezept endet, beginnt Schultz-Zehdens Therapie. Immer unter der Prämisse, die Patienten wollen das auch.

Seit Jahrzehnten erlebt er in seiner Praxis: „Was die Seele nicht sehen will oder nicht sehen kann, das wahrzunehmen erlaubt sie auch den Augen nicht. Wenn aber solche seelischen Blockaden, vom Gehirn übermittelt, lange genug gewirkt haben, werden die Augen fehlsichtig oder krank.“

Schau mir in die Augen – und ich verrate dir, wie's dir geht: Weitsichtigkeit etwa entsteht nach den Worten Schultz-Zehdens meist dann, wenn das Auge etwas nicht sehen will. Kurzsichtigkeit trete meist in der Pubertät auf und signalisiere Probleme mit der eigenen Sexualität und Scheu, sich selbst zu akzeptieren. (Auch die Augen des Berichterstatters, ermittelte Schultz-Zehden, sind kurzsichtig: das rechte, „Vaterauge“ genannt, dreifach so stark wie das linke „Mutterauge“...) Und wem die Augen brennen, der muß nicht nur allergisch auf zuviel Ozon reagieren. Der kann, so der etwas andere Augenarzt, auch unter Beziehungsstörungen leiden. Das Auge, ein Spiegel der Seele: Alkoholiker hätten diese typisch hängenden Triefaugen, weil „die sich morgens nicht mehr sehen können“.

Dr. Schultz-Zehden ist kein Wunderdoktor – aber auch kein Quacksalber. „Durch meine Therapie verschwindet Kurzsichtigkeit nicht“, sagt er. Aber er könne sie im Bewußtsein des Patienten „verankern“, nach dem Motto: Es muß nicht noch schlimmer werden, es kann auch zurückgehen. Zwingen will er niemanden, denn: „Der einzige Mensch, den ich im Leben ändern kann, bin ich selbst.“ Und diese Änderung sei eben nicht auf Krankenschein zu haben. Soll heißen: Die Patienten müssen mitspielen, ihre Augen autogen trainieren – und auch mitforschen, welche Erlebnisse sie möglicherweise haben fehlsichtig werden lassen. „Vor kurzem kam ein zwölfjähriges Mädchen in meine Praxis, das aus Verzweiflung auf einem Auge blind wurde. Sie hatte ein Gespräch zwischen ihren Eltern belauscht und erfahren, daß sie ein Adoptivkind ist. Zwei Tage danach war das Sehzentrum des rechten Auges so blockiert, daß sie nichts mehr erkennen konnte.“ Die Sehunfähigkeit sei eine körperliche Reaktion auf den Schock gewesen. Durch psychotherapeutische Gespräche konnte Schultz- Zehden diese Blockade wieder aufheben: „Das hat drei Monate gedauert.“ Thorsten Schmitz