„Ich bin hoffnungslos diesseitig“

■ Ein Gesprächsband mit dem „Oxford-Realisten“ Issaiah Berlin

Sogar Habermas habe plötzlich allgemeinverständlich gesprochen, bemerkte überrascht einmal der Rezensent eines Buches, das Interviews mit dem Frankfurter Philosophen versammelte: die Form des Gesprächs, des auf Konkretheit erpichten Nachfragens, als Eindämmung allzu wolkigen Auto-Diskurses. Bei Issaiah Berlin erweist sich derlei stilistische Domestizierung als nicht notwendig. Der sich ganz bescheiden als „Ideenhistoriker“ bezeichnende Denker setzt von vornherein Klarheit als Credo: „Eine der Wirkungen von Philosophie, wenn sie in der richtigen Weise gelehrt wird, rührt daher, daß sie die Fähigkeit fördert, politische Rhetorik, falsche Argumente, Täuschungsmanöver, fumisme, Sprachnebel, emotionale Erpressung und alle möglichen Formen von Verdrehung und Entstellung aufzudecken. Sie kann die Kritikfähigkeit erheblich schärfen.“

Das vorliegende Buch in Gesprächsform, das der in Frankreich lebende Philosoph Ramin Jahanbegloo mit Berlin führte, ist eine Art Lesebuch zur Einführung in die Gedankenwelt des weltbekannten „Oxford-Realisten“. Nachdem vor zwei Jahren „Das krumme Holz der Humanität“ in deutscher Übersetzung erschien, wurde Berlin auch hier bekannter, das Wahrnehmungsdefizit gegenüber dem angelsächsischen Sprachraum freilich aber ist noch immer vorhanden. Berlin, 1909 in Riga geboren, nach dem Oktoberputsch 1917 mit seiner Familien nach England emigriert, war Präsident der Britischen Akademie der Wissenschaften und befaßte sich in unzähligen Veröffentlichungen mit der Entwicklung des Monismus über den Dualismus zu einem pluralistischen Denken, das mehrere Lösungswege gelten läßt.

Platon, Spinoza, Vico, Herder, die russischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts und die Philosophen der Gegenwart – eine Beschäftigung mit verschiedenen Gedankenwelten, die schließlich in der Ablehnung utopisch-homogener Konzeptionen gipfelt: „Die Vorstellung einer umfassenden Lösung aller menschlichen Probleme, die, wenn sich zuviel Widerstand erhebt, notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werden muß, führt nur zu Blutvergießen und zu einer Vermehrung menschlicher Not.“ Allein die liberale Demokratie schaffe es, die teilweise konträren ethischen Grundwerte in der täglichen Kompromißsuche nebeneinander bestehen zu lassen und ihren Bürgern ein halbwegs erträgliches Miteinander zu garantieren.

Als Gegner ewiger Wahrheiten muß sich dabei natürlich auch Issaiah Berlin in Widersprüche verstricken. Leider hat es sein Gesprächspartner versäumt, ihn daraufhin anzusprechen. Oft degradiert er sich zum bloßen Stichwortgeber und stellt Allerweltsfragen: „Meinen Sie nicht, daß der Nationalismus in der Welt von heute eine Gefahr für die Demokratie darstellt?“ Gerade hier wird die Unterhaltung verwaschen. Daß der Nationalismus oder Rassismus längst nicht mehr allein von der Überlegenheit der eigenen Nation ausgeht, sondern ganz clever die Gleichwertigkeit aller Kulturen ins Feld führt, um im eigenen Machtbereich desto ungestörter von universellen Anforderungen schalten und walten zu können, scheint für den überzeugten Pluralisten Berlin in diesen Gesprächen kein Thema zu sein. Wo hört der tolerante Pluralismus auf, und wo beginnt der alles entschuldigende Kulturrelativismus? Fragen, die man vergeblich sucht.

Für Berlin ist zum Beispiel Gottfried Herder noch immer ein sensibler, wenn auch leicht von Ressentiments geleiteter Geist, der ganz „anti-monistisch“ die Augen für die Vielfalt der Kulturen geöffnet habe. Daß sich später zu Recht auch die französischen Anti- Dreyfusards auf ihn beriefen, um kulturübergreifende Werte zu leugnen, daß das volksliedersammelnde Unschuldslamm den „gefährlichsten Sprengstoff der Moderne“ (J.-L. Talmon) ins neuzeitliche Denken schmuggelte, wird nicht einmal am Rand reflektiert. Berlin, der in Frankreich nach 1968 „plötzlich Stille“ konstatiert, hätte vielleicht die dortige kritische Herder-Rezeption der noveaux philosophes um Glucksmann und Finkielkraut doch einmal zur Kenntnis nehmen sollen.

Ansonsten: ein großartiges Lesebuch der Gedanken eines frisch formulierenden Universalgelehrten. Manchmal hätte man sich mehr Biographisches gewünscht. Die Passage, in der Berlin erzählt, wie er 1946 als britischer Nachrichtenoffizier in Moskau der verfemten Dichterin Anna Achmatowa begegnet und für sie der erste Ausländer seit 1917 ist, den sie treffen darf, zählt zu den berührendsten Stellen in diesem ansonsten wohltuend uneitlen Gespräch. Was Sir Berlin nicht erwähnte: die Achmatowa widmete ihm damals eines ihrer berühmtesten Gedichte. Auch über seine Freundschaft mit Stephen Spender erfährt man (zu) wenig. Mit dem Autor von „Der Gott, der keiner war“, des wohl berühmtesten Abschiedsmanifestes westlicher Intellektueller vom Kommunismus, verbindet Issaiah Berlin auch die Klarheit der Sprache und des überzeugten Liberalismus, der ohne euphorische Illusion sein humanistisches Menschenbild nie modischem Zynismus geopfert hat. Stephen Spender in London, Leszek Kolakowski in Oxford, Melvin Lasky in Berlin – die alten Männer einer engagierten angelsächsischen Tradition leben noch. In Deutschland fanden sie nie das Echo, das sie verdient hätten. Mit Issaiah Berlins Buch als Einstieg könnten das jetzt die hiesigen LeserInnen nachholen. Marko Martin

Issaiah Berlin/Ramin Jahanbegloo: „Den Ideen die Stimme zurückgeben. Eine intellektuelle Biographie in Gesprächen“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1994, 251 Seiten, 38 DM