Gefangene im eigenen Haus

Das arabische Kino zwischen Polit- und Autorenfilm – Ohne Fernsehen geht nichts  ■ Von Julia Reschop

Die ganze Familie hat sich um den zehnjährigen Radar versammelt; er liest gerade den Brief seines Bruders aus Deutschland vor. Da erschallt plötzlich über Lautsprecher der israelischen Jeeps das Gebot zum Ausnahmezustand. Keiner darf mehr auf die Straße gehen, alle müssen zu Hause bleiben. „Curfew“ (Ausnahmezustand) ist der erste Spielfilm des Palästinensers Rashid Masharawi, der bereits verschiedentlich auf internationalen Filmfestspielen mit Preisen ausgezeichnet wurde (Kairo, Cannes, Paris). Sehr typisch für das neue arabische Kino werden hier die persönlichen Schicksale einer Familie dargestellt und nicht die üblichen politischen Aktionsszenen.

Dabei stand die Aneignung des Films gerade in Palästina, aber auch in Algerien in direkter Verbindung mit dem Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Der 32jährige Regisseur von „Curfew“ ist selbst in einem Flüchtlingslager aufgewachsen, und es ist klar, daß es bei ihm um das Palästinaproblem geht, aber eben aus der Privatperspektive. Ein konsequenter Schritt angesichts der sich jetzt neu formierenden Identitätsnöte der sich selbst überlassenen Palästinenser. „Ich möchte zeigen, wie sich die einfachen Leute während des Ausnahmezustands verhalten, wenn sie plötzlich zu Gefangenen in ihrem eigenen Haus geworden sind.“

Von der israelischen Armee ist in „Curfew“ tatsächlich kaum etwas zu sehen, die Handlung beschränkt sich auf das Innere der vier Häuserwände. Hier passiert alles oder eher gar nichts. Jeder wartet ab, langweilt sich oder ist kurz vorm Verzweifeln. Der Vater ist krank und sitzt die meiste Zeit auf seinem Bett, versucht aber, den Familienfrieden und den der Nachbarn aufrechtzuerhalten. Nur Mutter, Hort der Stabilität in einem bröselnden Machtsystem und häufig im arabischen Kino eine Art „Symbol“ des Landes, ist in voller Aktion. Sie teilt mit der Schwiegertochter das Essen für die kommenden Tage auf und wagt sich auf die Straße, um eine Hebamme für die hochschwangere Nachbarstochter zu holen. Radar weiß über alles Bescheid. Er guckt über die Wände, um zu sehen, was die Israelis auf der Straße machen, versteckt für seinen in der Intifada engagierten Bruder Spritzbomben und tauscht mit dem Nachbarmädchen durchs Fenster Milchflaschen und die neuesten Informationen aus.

Seit einigen Jahren macht sich ein arabisches Autorenkino in Europa bemerkbar, dessen Popularität sich leider größtenteils auf die internationalen Filmfestivals beschränkt. In Paris lief kürzlich im „Institut du Monde Arabe“ die zweite Biennale des arabischen Films, mit einem erklecklichen Sortiment von Filmen aus Ägypten, Syrien, Libanon, Palästina, Algerien, Tunesien und Marokko. Obwohl die Hintergründe völlig unterschiedlich sind, merkt man fast allen Filmen an, daß sie sich ästhetisch und thematisch von der Dominanz des westlichen Kinos einerseits und der arabischen Burleske andererseits freizustrampeln versuchen.

Man darf nicht vergessen, neben militanten Politfilmen wollte man in arabischen Ländern eher „Die Hard“ sehen; Autorenfilme hatten und haben es da wie überall nicht leicht. Vor der Unabhängigkeit wurden pro Jahr zweihundert Filme europäischer Filmemacher gedreht, nur sechs von arabischen Regisseuren. Für eigene Filme fehlt aber nicht nur eine Infrastruktur, sondern auch eine ästhetische oder ikonographische Tradition. Der problematische Held, das konflikthaft-antagonistische Drama ist in der maghrebinischen Tradition genauso unbekannt wie der sogenannte „Realismus“; statt dessen sind eher epische Erzählformen und abstrakte, ornamentale Kunstformen gewohnt.

Ägypten ist eben das einzige arabische Land, das bereits seit den zwanziger Jahren eine eigene Filmindustrie hat. Da wird nicht großartig experimentiert. Viele arabische Regisseure haben deswegen ihre Ausbildung im Ausland gemacht – in Europa oder auch Rußland – und sind mit neuen Ansätzen und Ideen nach Hause zurückgekommen. Zunehmend machen sie Filme, die den Zuschauer sich selbst überlassen.

Immer häufiger bekommt man das Abbild einer Gesellschaft zu sehen, die zwischen ihren eigenen traditionellen Werten und einem modernen Lebensstil hin- und hergerissen ist. Sanft, aber insistent wird die patriarchale Position des arabischen Mannes in Frage gestellt. Der Herr ist oft nicht mehr ganz Herr im eigenen Haus; immer mehr Filme drehen sich um eine Frau, die hoch und vor allem hinaus will. Oft wird, zaghaft, noch ein politischer Grund für die Abwesenheit des Mannes vorgeschoben – er ist im Gefängnis oder in der Armee –, oder er trägt seine Machtfülle wie eine fadenscheinige Maske, die oft eine eher schwächliche Persönlichkeit verdeckt, einen Gehörnten.

Witzig geht es zu in dem marokkanischen Film „A la recherche du mari de ma femme“ (Auf der Suche nach dem Mann meiner Frau) von Abderrahmane Tazi um einen mitleiderregenden Ehemann. Dieser hat zwar drei Frauen, aber die jüngste macht sich immer mehr selbständig, und er wird bei jeder kleinsten Gelegenheit eifersüchtig. So läßt er sich bereits zum dritten Mal von ihr scheiden und will sie natürlich nach ein paar Tagen zurückholen. So einfach läuft es diesmal aber nicht, denn er darf sich nur dreimal scheiden lassen. Sie amüsiert sich in ihrer Freiheit blendend und kauft sich modische Kleidung. Er hingegen ist todunglücklich und muß unbedingt eine Lösung finden. In Algerien, wo der Freiheitskrieg und seit einiger Zeit die Fundamentalistenbewegung thematisch dominieren, wird das Politische durch persönliche Schicksale erzählt. Merzak Allouaches „Bab el-Qued City“ wurde dieses Jahr in Cannes preisgekrönt und erhielt in Paris sogar den Hauptpreis. Am Beispiel eines Bäckerjungen sieht man, wie den Jugendlichen in einem populären Stadtteil von Algier durch die zunehmende Gewalt jegliche Identität genommen wird.

Immer mehr sind die Regisseure auf Koproduktionen mit dem Ausland angewiesen, was aber noch lange nicht bedeutet, daß der Film einen Verleih finden wird. Noch schwieriger wird es auf nationaler Ebene, denn ein Austausch zwischen den Ländern untereinander ist so gut wie unmöglich.

Angeblich soll das wohl auch an den unterschiedlichen arabischen Dialekten liegen. Es haben sich aber alle Länder ohne weiteres an den ägyptischen Dialekt gewöhnen können, warum also nicht an den marokkanischen?

Bis dieser Austausch funktioniert, wird das maghrebinische Kino wohl weiterhin auf das Fernsehen bauen müssen. In Deutschland arte und ZDF, La Sept und Canal plus in Frankreich oder Channel Four in England sind vor allem für das noch untergewichtige Autorenkino lebenserhaltend. Georges Goldenstern von arte Frankreich erklärt: „Die Koproduktion mit dem Fernsehen ist weniger ein Kompromiß für den Regisseur, sondern ermöglicht schlicht die Finanzierung des Films. Konnte der Film keinen richtigen Erfolg im Kino bekommen, so bietet ihm das Fernsehen zusätzlich die Chance für eine neue Karriere. Das Fernsehpublikum, das einen iranischen, syrischen oder tunesischen Film gesehen hat, ist vielleicht interessiert, andere Filme zu entdecken.“

Man kann nur hoffen, daß die Kinoverleiher eines schönen Tages nachziehen werden.