Ein paar Perlen für den weißen Mann

■ Wie ein „Schatz“ aus 1.000 Kultgegenständen der brasilianischen Kanela-Indianer ins Bremer Überseemuseum kam: Ein kleiner Reisebericht/ Ein Beispiel für eine Ethnologie, die beherzt eingreift und sich einmischt

Von einer Ethnologie, die nur beobachtet, aber nicht eingreift, hält Jürgen Dieckert nicht viel. Für den habilitierten Sportwissenschaftler an der Universität Oldenburg, zugleich Präsident des Deutschen Turnerbundes, und seit 1988 Adoptivsohn einer indianischen Familie vom Stamme der Kanela, zählt das Handeln. Denn die Kanela-Indianer, ein Völkchen von rund 1.000 Menschen, die im Nordosten Brasiliens auf unfruchtbarem Reservatsland leben, kämpfen gegen Krankheit und weiße Siedler um ihr kulturelles und ihr körperliches Überleben.

„Da kann man nicht einfach zusehen“, befand der Professor und der Ausweg, den er ersann, hieß Europa, heißt Museum: Am Montag wurde dem Bremer Überseemuseum „im Namen der Kanela-Indianer“ eine Sammlung von rund tausend indianischen Kulturgütern überreicht (taz vom 11.7.94); Dieckert und sein Ethnologen-Kollege Jakob Mehringer hatten sie gemeinsam mit dem Ältestenrat der Kanela zusammengestellt, von der Bremischen Sparkasse waren sie bezahlt, von der Museumsdirektorin Viola König als „Schatz“ begrüßt worden: Weil die Sammlung, was selten ist, als vollständige Sammlung aus einer lebendigen indianischen Kultur stammt. Und weil es angesichts der knappen Museumsmittel schier unvorstellbar schien, diese Exponate überhaupt nach Bremen zu bekommen.

Dieckert, der Überbringer war's, der mit eloquenter Zähigkeit für sein Ziel gekämpft hatte, den Indianern Unterstützung zu verschaffen: landauf, landab hatte er Reden über „unsere Indianer“ gehalten – und am Ende andere mit seiner Überzeugung angesteckt. Bei solch einem „Angesteckten“ lagern nun vorerst die Ausstellungsstücke in Blumenthal, mangels Museumsmagazin, bis Wege zur Aufarbeitung und Ausstellung der Güter gefunden sind; man munkelt im nächsten Jahr werde es soweit sein. Möglicherweise in den Räumen der Sparkasse.

Vom „gutem Werk“ will der Überbringer Dieckert aber nichts hören. Ebensowenig von zynischer Neunmalklugheit, die nur unkt, daß wenigstens die Kulturgüter in musealer Sicherheit seien, während es für die betroffenen Menschen aber keine Überlebensgarantie gebe. Für solche Überlegungen hat er nur Schulterzucken übrig. Seine Strategie heißt Geld: Über Spenden an die Deutsch-Brasilianische Gesellschaft nämlich, und über den Verkauf der Sammlung, die runde 50.000 Mark einbrachte, werden weitere Komplementärmittel hier im Lande oder in Europa eingeworben. Damit wird das Hilfsprojekt für die Kanela finanziert, das schon seit 1990 läuft: Portugiesischunterricht in Wort und Schrift, Versuchsanbau von medizinischen Pflanzen, die Sicherung medizinischer Grundversorgung, geregelter Transport für Mensch und Produkte – und vieles mehr gehört dazu. Damit könnten die Kanela „fit“ in Produktion und Handel werden, „damit sie nicht über's Ohr gehauen werden“, hofft er.

Auf die Bewahrung einer vermeintlichen Idylle kommt es ihm nicht an. Wie auch, „die Weißen überfielen zuletzt 1968 das Dorf und schossen auf die Menschen“, sagt Dieckert. Viele Überlebende traten damals die Flucht an, aber nur wenigen bot sie einen Ausweg. „Denn Hunger zerstört jede kulturelle Identität“, so der Professor. „Und in der brasilianischen Gesellschaft hatten die Indianer keine Chance. Sie werden verachtet und die Bürgerrechte gelten für sie noch nicht lange.“ Vor allem im Widerstand gegen die brutale Zerstörung ihrer Lebenswelten also unterstützen Dieckert und Mehringer die Kanela. Es geht ihnen darum, gemeinsam nach neuen Wegen zu suchen, um alte Erfahrungen nutzbar zu machen. „Gesellschaftlichen Wandel gibt es ja immer.“

So überlegen die Kanela, ehemals ein Völkchen von Jägern und Sammlerinnen, nun Rinder zu halten, „wenn das ökologisch verträglich ist“. Oder man entscheidet, daß der traditionelle Heiler auch mit westlicher Medizin umgehen lernt. Oder daß die Frauen mit ihrem Wissen über Heilpflanzen ein Produkt hätten, das sich vermarkten ließe. Alles zum Wohle der Gemeinschaft, die in dieser traditionellen Gesellschaft über allem steht: „Solange wir Singen, Tanzen und Klotzlaufen können, solange werden wir nicht untergehen“ – das ist ein Diktum der Kanela. Aber Singen, Tanzen und Klotzwerfen kann man nicht einzeln. Dafür braucht man die anderen.

Dieser Sinn für Gemeinschaft und die hohe Bewertung ihrer kulturellen Ausdruckfähigkeit in Gesängen und Tänzen – das ist es, was den Experten Dieckert berührt. Denn die Ethnologie ist nur seine dritte oder vierte Disziplin. Im Herzen ist der ehemalige Deutsche Juniorenmeister ein Breitensportler, ein Bewegungsfan, wie er im Buche steht. Jedem Menschen sei das Recht auf Spiel und Bewegung zu garantieren, meint er. Und da findet der Wissenschaftler in den Kanela Verbündete, von denen er noch lernen kann.

Damit hatte überhaupt alles angefangen: Mit dem Lernen und der Neugierde. Als der Professor nämlich in den 80ern für eine dreijährige Gastprofessur nach Brasilien kam, war er scharf auf die Tänze der Straße – ganz zur Mißbilligung der akademischen KollegInnen. Und als er fragte: „Was habt ihr denn von denn Euren Indianern gelernt?“ schlugen ihm Ablehnung und Ahnungslosigkeit entgegen. Da machte er selbst sich auf die wissenschaftliche Suche und landete bei den Kanela. Die gemeinsamen menschlichen Überzeugungen von der Bedeutung der Bewegung und die ganz persönlichen Beziehungen zwischen dem wohlhabenden weißen Adoptivsohn und seiner armen indianischen Familie nahmen ihn in eine Pflicht, der er sich stellen will: „Man muß etwas tun, um diesen Menschen zu helfen.“ Und wenn der nicht mehr ganz junge deutsche Professor von seiner Großmutter in Brasilien spricht, von seinem Schwager und von seinem Vater, weiß man, wie ernst es ihm ist.

Seine Umtriebigkeit, sein Status, und ein wenig die europäische Herkunft helfen ihm dabei, hier wie dort. „Denn was man in den USA und Europa denkt, zählt viel in Brasilien“, sagt der Professor. Das war schon so mit der Capoeira und dem Lambada, die erst nach dem Erfolg als Exportschlager zu kultureller Anerkennung in der Heimat gelangten. Und das könnte auch den Kanela helfen. Die jedenfalls waren mit Jürgen Dieckert als Botschafter ihrer Kultur in Europa einverstanden. Dafür übergaben sie ihm ihre Kulturgüter, die nun in Bremen lagern.

Der böse Verdacht vom heimlichem Ausverkauf der Kanela Kultur muß allerdings noch ausgeräumt werden. Ist nicht die Not oft eine schlechte Beraterin? Ging womöglich das letzte Hemd der Ärmsten in die Sammlung ein? Nein, die Kanela sehen das anders, sagt ihr Botschafter. Und dann hält er ein kleines, geflochtenes Bastgeweih in die Höhe: Symbol der Hirschkraft und unabdingbarer Schmuck für den Klotzlauf, das rituelle Schleppen von schweren Baumstämmen, mit dem Frauen und Männer ihre Kraft beweisen – und ihren Respekt vor den Ahnen. „Das ist mehr als Bodybilding und Ausdauertraining“, sagt der Sportfunktionär. Für ihn ist das eine Einheit von Körper und Geist, die es zu bewahren gilt. Vielleicht für eine langsame Veränderung. Jedenfalls aber für's Überleben der Menschen. Die haben dafür ihre Güter auf dem Dorfplatz zusammengetragen: Perlengürtel, Körbe, Baumstämme, geflochtene Geweihe. „Nichts, was die Canela nicht ersetzen könnten“, sagt Dieckert und gibt nicht einen Moment Anlaß zu Melancholie. Eva Rhode

Kontakt: Prof. Dr. Jürgen Dieckert, Universität Oldenburg, Tel: 0441/ 7983154