„Die EuropäerInnen mögen unsere Musik“

■ StraßenmusikerInnen aus Osteuropa haben in Berlin flötende Latinos abgelöst

Vor zehn Jahren waren es lateinamerikanische Panflötenspieler, die auf dem Berliner Ku'damm und in der U-Bahn in bunten Trachten Folklore zum Anfassen boten. Seit etwa vier Jahren kommen die Töne aus der anderen Richtung: Seither schieben AkkordeonspielerInnen aus Osteuropa den einst „eisernen“ Vorhang beiseite. Es hat sich herumgesprochen, daß die WesteuropäerInnen ihre Musik mögen. Immer häufiger haben sie die peruanischen Ponchoträger vor Karstadt abgelöst, und schwungvoll-melancholische Melodien aus Polen und Ungarn, aus Rumänien, Rußland oder der Ukraine fliegen den U-Bahn-Gästen beim Umsteigen ins Ohr und bleiben stundenlang auf gespitzten Lippen hängen.

In den Gängen der U-Bahnhöfe sind die SpielerInnen schon von weitem zu hören. Dann kann man überlegen: Ist es die Russin mit ihrer weißen Pelzmütze, die so schön singt? Wenn ja, dann ist der junge blonde Mann mit Schnauzer bestimmt nicht weit, der sein Akkordeon immer entfernt genug auspackt, damit sich die Melodien nicht überschneiden. Oder einer der beiden Jungen mit kurzen Stoppelhaaren, deren Hosen viel zu groß sind und die unwillkürlich leiser spielen, wenn sie plötzlich einem gleich großen deutschen Kind in die Augen sehen.

Im Bahnhof Friedrichstraße sitzt Sergej auf einem alten, zerschlissenen Bürostuhl. Auf seinem Akkordeon spielt er Lieder aus seiner Heimat, vor ihm liegt der Instrumentenkoffer geöffnet auf dem Boden, ein paar Münzen sind darin.

Sergej ist 48. Er kommt aus der Ukraine und ist erst seit zwei Wochen in Berlin. Vor einem Jahr ist er südlich von Kiew aufgebrochen, um in Europa Arbeit zu suchen. Zimmermann ist er – aber auf dem Land und auf dem Bau hat er nichts gefunden. So packte er in Madrid sein Akkordeon aus. In der Ukraine hatte er damit auf Festen gespielt, „früher, als die Hochzeiten noch groß waren“. Ein Freund hatte ihm geraten, es mitzunehmen, wenn er nach Europa geht. Das Instrument blieb auf der Strecke, als Sergej von Spanien nach Deutschland weiterzog – auf einem Bahnhof nahe der französischen Grenze ließ er es liegen, aus Angst. Angst wohl, als Straßenmusikant, als Gaukler, als Landstreicher gar abgewiesen zu werden, nachdem ihm in Madrid seine Papiere gestohlen worden waren. Mittlerweile weiß er, daß das übervorsichtig war: „Die schwierige Grenze ist die zwischen Polen und Deutschland. Danach bist du in Europa“. Aber das Akkordeon, für das er in der Ukraine sieben Mark bezahlt hatte, das war weg.

In Berlin wartete ein neues. Alt ist es, russisches Fabrikat, und es kostete ihn fünfzig Dollar. 600 Mark hat es ihm in den zwei Wochen eingebracht – von morgens bis abends hat er gespielt, wo immer es ging. Sagt er mit ein paar englischen Worten. Und erzählt auf spanisch von Madrid, ach Madrid, der Prado, die klassischen Konzerte, die Menschen. Dort hat er eifrig Spanisch gelernt, und jetzt wendet er alle englischen und spanischen Wörter an, die er kennt, um sich verständlich zu machen. In Berlin klappt es nicht mit dem Deutschlernen – er ist ständig von Leuten umgeben, die russisch sprechen.

Und nicht alle sind gute Freunde. Gerade in diesem Moment mußte er den erfolgversprechenden Platz im S-Bahnhof Friedrichstraße aufgeben, weil die Russin und der junge Mann mit dem Schnauzer ihn für sich reklamieren. Die beiden Männer reden eine Weile eindringlich aufeinander ein, dann stellt Sergej sein Akkordeon zu der Frau und versteckt den schweren Bürostuhl wieder im Gebüsch hinter einer Baustelle, während die Frau ihren kleinen, praktischen Klappstuhl aufstellt.

Die Akkordeonklänge und die Stimme der Frau schlängeln sich durch die Cafés unter den S-Bahn- Bögen. Sie spielt die Filmmusik aus Dr. Schiwago – und die Menschen an den Tischen verstummen, lauschen, und in Gedanken scheinen sie plötzlich woanders zu sein. „Die EuropäerInnen mögen unsere Musik“, sagt Sergej. Beim nächsten Stück der Russin muß Sergej schmunzeln und brummelt in sich hinein: „Ein ukrainisches Lied, und sie singt es mit russischem Akzent.“ Er hängt sich sein Akkordeon über die Schulter und geht in Richtung Museumsinsel. Vielleicht ist vor dem Pergamonmuseum noch Platz. Karin Gabbert, Berlin