Nicht in bester Verfassung

■ Bundestag beschließt Verfassungsreform / Länder wollen sie scheitern lassen

Berlin (taz) – Am Anfang standen große Erwartungen, am Ende die nüchterne Bestandsaufnahme, daß die Mehrheit des Bundestags mit der Verfassung der alten Bundesrepublik die Bewährungsproben der neuen Bundesrepublik bestehen will. Nur eine verschwindend geringe Zahl von Vorschlägen zur Umgestaltung oder Erweiterung des Grundgesetzes hatte gestern im Bundestag Aussicht auf die nötige Zweidrittelmehrheit der Stimmen. Nach der mehrstündigen Debatte mit mehr als 50 Rednern, die im Berliner Reichstag stattfand, dauerte die Abstimmung über die einzelnen Änderungsvorschläge gestern bei Redaktionsschluß noch an. Vertreter der Länder drohten vor dem Plenum damit, die gesamte Verfassungsreform im Bundesrat abzulehnen, weil eine Zweidrittelmehrheit für die ursprünglich festgeschriebene Stärkung der Länderkompetenz nicht abzusehen war.

Rund zweieinhalb Jahre lang hatte die Gemeinsame Verfassungskommission von Bund und Ländern an der Verfassungsreform gearbeitet, die im Einigungsvertrag als Aufgabe festgeschrieben worden war und sich auch aus Bestimmungen des Grundgesetzes ableiten läßt. Reformorientierte Kräfte innerhalb und außerhalb des Bundestags sowie die Bürgerrechtsbewegung der DDR hatten gehofft, ihre Ideen zur Stärkung plebiszitärer Elemente in der gesamtdeutschen Verfassung festschreiben zu können und die neue Konstitution mit einer Volksabstimmung legitimieren zu lassen. Darauf wiesen gestern Sprecher von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen nochmals hin.

In der Gemeinsamen Kommission waren die meisten dieser Ideen von der Mehrheit der Koalitionsvertreter abgebügelt worden – für den SPD-Juristen Hans- Jochen Vogel, der nach 22 Jahren Zugehörigkeit im Bundestag gestern seine letzte Rede hielt, eine „empörende Arroganz und Besserwisserei“. Die Koalitionsfraktionen hatten zudem schon vor der gestrigen Sitzung einige der in der Kommission zwischen den Parteien nicht strittigen Vorschläge abgelehnt. So sperrten sich Union und FDP gegen die vorgeschlagene Stärkung von Länderrechten gegenüber dem Bund mit dem Ziel, die Zentralisierung von Macht zu beenden.

Als unstrittig galt gestern nur die Aufnahme des Staatsziels Umweltschutz, der Frauenförderung und eines Verbots der Diskriminierung von Behinderten. Gute Chancen wurden auch der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz eingeräumt. Tiere sollen „nach Maßgabe der Gesetze vor vermeidbaren Leiden geschützt“ werden. Keine Chancen auf Verwirklichung hatten dagegen FDP- und SPD-Entwürfe für die Gleichstellung von auf Dauer angelegten nichtehelichen Lebensgemeinschaften und zum Schutz von Minderheiten. Die Union fürchtet, der Minderheitenschutz eigne sich als Hebel, um eine fortschrittlichere Ausländergesetzgebung zu erzwingen. Als völlig offen galt gestern nachmittag das Schicksal einer interfraktionellen Initiative, die einen Appell zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in die Präambel schreiben will. Ob die Schwundform einer Reform in Kraft tritt, ist nun fraglich: Länderministerpräsidenten von CDU, CSU und SPD kündigten übereinstimmend an, im Bundesrat die gesamte Reform als Paket abzulehnen, falls die Erweiterung ihrer Gesetzgebungskompetenz nicht aufgenommen werde.

Hans Monath Seite 5