Sanssouci
: Vorschlag

■ Leider auf altmodische Art didaktisch: Marcel Ophüls' Film über die Nürnberger Prozesse

Es ist eine eigentümliche Sache mit der Erinnerung, mit der Interpretation von kollektiver und individueller Schuld. „Nicht schuldig!“ und „Ich bin in keiner Weise schuldig“, erklärten prominente Nazis während der Nürnberger Prozesse zu den ihnen angelasteten Verbrechen. Marcel Ophüls geht in seiner viereinhalbstündigen Dokumentation „The Memory of Justice“ der „Geschichte moderner Gesellschaften und ihren jeweiligen Konzepten von Gerechtigkeit“ nach, die sich natürlich immer als Fundament von Gegenwart lesen lassen. Ophüls' Werk ist zudem die denkbar beste kritische Ergänzung zu dem Rummel, der gerade um die Einweihung des „Hauses der deutschen Geschichte“ in Bonn betrieben wurde.

Dokumentar- und Archivaufnahmen von den Nürnberger Prozessen, von Vietnamkrieg, Hiroshima, Dresden, Algerien und stalinistischen Säuberungen verbindet Ophüls in einem Mammutritt mit Interviews von Anklägern und Angeklagten. Die Fülle des Materials schlug einfach über dem Regisseur zusammen – „The Memory of Justice“ ist auch in formaler Hinsicht keine leichte Kinokost: chaotische, rhythmisch offene 13.000 Meter Filmcollage. Darüber sollte man jedoch hinwegsehen, denn Ophüls' Dokumentarepos bleibt ein Standardwerk über jene verlogene Delegierung individueller Verantwortung an abstrakte Institutionen, die sich im sprichwörtlichen „Wir wußten von nichts“ eines Wehrmachtsoffiziers konkretisiert, die schizophrene Trennung von „nur Soldat, aber nicht Politiker sein“.

Der Film nimmt, und das nicht einmal absichtlich, eine ganz altmodisch-didaktische Funktion wahr. Ophüls reflektiert „die ausnehmend bourgeoise Einstellung, man könne das, was konventionellerweise ,Politik‘ genannt wird, von anderen menschlichen Aktivitäten wie die Ausübung eines Berufes, von Familienleben oder Liebe trennen“ – für den Regisseur die schlimmste Flucht vor der Verantwortung für das Leben. In der Befragung holsteinischer Landarbeiter tritt diese „Augen zu“-Bigotterie ebenso zutage wie in Gesprächen mit einem ehemaligen Nazi- Arzt oder jenem britischen Ex-Ankläger von Nürnberg, der 1973 die Bombardierung von Zivilisten ganz in Ordnung findet.

Ophüls' Filmtitel „Die Erinnerung an die Gerechtigkeit“ war von der Idee Platons über die vage Erinnerung der Seele an ein ideales Dasein, das auch eine vollkommene Gerechtigkeit impliziert, angeregt. Der Verlauf der Geschichte ist leider die aktuelle Antithese zu dieser Idee. Anke Westphal

„The Memory of Justice“, BRD/GB/USA 1975, Regie: Marcel Ophüls, OF, 278 Min.; heute bis 6.7. im fsk, Wiener Straße 20, Kreuzberg.