„Wie hältst du es mit Rußland?“

In der Ukraine wird morgen erstmals ein Präsident gewählt / Seine Kompetenzen sind noch unklar / Beste Chancen für den gegenwärtigen Amtsinhaber Krawtschuk oder Ex-Premier Kutschma  ■ Aus Kiew Barbara Kerneck

Andrjuscha, nun sag mir doch um Gottes willen schon, wen ich wählen soll. Ich kann doch keinen von diesen ...“ Eine distinguierte ältere Dame kommt die abschüssige, baumüberschattete Kiewer Puschkin-Straße hinabgesegelt, in Richtung auf meinen geduldigen Begleiter Andrej von den ukrainischen „Grünen“. „Ich würde ja Wladimir Lanowoj wählen“, grübelt der und bezieht sich damit auf einen der jüngsten von den sieben Kandidaten, die sich am Sonntag für den Posten des Präsidenten der Ukraine zur Wahl stellen, einen Marktwirtschaftstheoretiker reinsten Wassers. „Aber“, fährt Andrej fort, „der hat ja überhaupt keine Chancen.“

Das Rennen – darin sind sich alle einig – wird zwischen dem gegenwärtigen Präsidenten Leonid Krawtschuk, 60, und dem ehemaligen Premierminister der Ukraine, Leonid Kutschma, 56, entschieden. Krawtschuk hat sich einen Ruf als Verwalter der nationalen Interessen und geschickter Taktierer erworben, außerdem konnte er im Westen einige günstige Verträge für sein Land abschließen. Kutschma wurde bekannt als Chef des prestigeträchtigen Raketenwerkes Juschmasch in Dnjepropetrowsk. Er gilt jetzt als Vertreter des „Unternehmerverbandes“, lies: der roten Direktoren. Als Anhänger eines engeren Wirtschaftsverbunds mit Rußland findet er Anklang auf der Krim und im überwiegend russischsprachigen Osten der Ukraine. Als relativ starke Mitbewerber gelten noch der 50jährige Kommunist und Parlamentspräsident Alexander Moros sowie der 53jährige Iwan Pljuschtsch, einst Vorsitzender des ukrainischen Obersten Sowjets.

Für wen auch immer sie sich entscheiden – mit ihrem Präsidenten wählen die UkrainerInnen die Katze im Sack. Die genauen Funktionen des neuen Amtsinhabers hat das Parlament noch nicht bestimmt, die Konstitution soll erst nach den Präsidentenwahlen verabschiedet werden. Erst dann entscheidet sich, was die Ukraine in Zukunft für ein Staat wird.

Fesch wie eh und je wandeln die Kiewerinnen unter Kastanienbäumen. Nur das Herumsitzen in den Cafés ist ihnen zu teuer geworden. Zielstrebig kriecht das Land auf den Lebensstandard der Dritten Welt zu. Während die Machthaber bisher mit den Eintritt in die Marktwirtschaft nur zögerten, ist Anfang des Jahres im Parlament eine kommunistische Fraktion an die Macht gekommen, die diesem Schritt schlicht feindlich gegenübersteht. Ein Platzkonzert im sommerlichen Regen ist der einzige Hinweis auf bevorstehende Wahlen.

Sehnsucht nach Mütterchens Schoß

In einem Vorort treffe ich doch auf eine kleine Wahlversammlung. Zwei Tage vor dem Präsidenten sollen noch die Abgeordneten für die Rada, das zentrale Parlament, gekürt werden – in jenem Drittel aller Bezirke, wo die Parlamentswahlen Anfang des Jahres für ungültig erklärt wurden. Dazu noch die Bezirksverordneten.

Diesen Kandidaten hier machen seine weitgehend pensionierten Wählerinnen gerade fertig: Von der fehlenden Glühbirne im Treppenaufgang bis zu dem Umstand, daß ein und derselbe Nachbar sein Auto immer vor ein und derselben Haustür abstellt, ist er offenbar für alles verantwortlich in dieser Schlafstadt.

Einen besonnenen Mann, seinen Ausführungen nach Autobesitzer und Ingenieur, bitte ich, zur Präsidentenwahl Stellung zu nehmen. Und er antwortet: „Ich bin für Kutschma. Weil er kein Politiker ist, sondern Professioneller und Praktiker – das hat er bei Juschmasch bewiesen. Und daß wir von Rußland weggegangen sind, das war ein großer Fehler. Jetzt haben wir nichts zu verlieren. Rußland ist noch gnädig zu uns, daß es uns nach alledem noch zum Spottpreis für 60 Dollar eine Tonne Erdöl abgibt.“ „So ein Unsinn“, kontert sein Nachbar: „Erst wolltet ihr unabhängig sein, um wie im Westen zu leben. Jetzt wollt ihr zurück in Mütterchens Schoß, damit die Wurst wieder so billig wird wie zu Breschnews Zeiten. Und was Kutschma betrifft: Der hat Juschmasch auf den Hund gebracht. Jetzt macht das Werk Trolley-Busse, die wir hier „Einwegbusse“ nennen. Genau wie Raketen kommen die nach dem ersten Start nicht zurück.“

Die Gretchenfrage: „Wie hältst du es mit Rußland?“ spaltet die Kiewer – nationale Losungen und die Forderung „Kampf der Korruption“ hingegen einigen sie. Dabei ertönt der Ruf nach der starken Hand im Lande immer lauter. In diesem Sinne will die Vereinigung Una-Unso (Ukrainische Nationalversammlung) das Problem der ukrainisch-russischen Beziehungen lösen. Das Versammlungsbüro dieser Radikalpatrioten liegt – wie es sich gehört – im Untergrund. An den Wänden Fotos: Folkloristisches, dominante Mädels in schwarzem Leder, „unsere Jungs“ in Sewastopol. Umweht von einer leichten Alkoholfahne, streitet ein Vertreter der Vereinigung ab, was durch die gesamte russische Presse rauschte: Una-Unso habe zweihundert Freiwillige zum „aktiven Urlaub“ gegen die Russen auf die Krim geschickt. Bereitwilliger erklärt er mir dann seine territorialen Vorstellungen: „Eine weitere Koexistenz Rußlands und der Ukraine auf dem Territorium der heutigen GUS ist auf die Dauer nicht möglich. Früher oder später wird man diese Frage entscheiden müssen. Es ist ja klar, daß das Imperium früher oder später wieder auferstehen wird, und wir finden, daß Kiew ein Recht darauf hat, das Zentrum dieses Imperiums zu sein.“ Geschickterweise, so meint mein Gesprächspartner, betreibe Rußland die „im Prinzip richtige“ Politik, die Konflikte aus dem eigenen Territorium auszulagern. Nach Turkmenien, in den Kaukasus, auf die Krim ... Daß die Una- Unso bewaffnete Einheiten unterhalte, streitet er für den gegebenen Moment ab. Am widerlichsten findet er die Leute in der Westukraine, die sich Demokraten nennen: „Da sind uns unsere Kommunisten noch lieber.“

Die Liebe beruht auf Gegenseitigkeit. Noch nie wurde einem Mitglied der Vereinigung von den Hütern des Gesetzes auch nur ein Haar gekrümmt, obwohl das „Säen nationaler Zwietracht“ auch hier verboten ist. An einer Häuserecke sehe ich ein verblaßtes Plakat der Una-Unso aus dem Winter: darauf sind ein schickes junges Mädchen und ein überaus geschniegelter Jüngling mit Schlips zu sehen. Der Text dazu: „Ihr seid es gewohnt, in einer Großmacht zu leben. Wir sorgen dafür, daß ihr eurer Gewohnheit treu bleiben könnt.“

Eine Verfassung wird schon noch kommen

Mikhola Horbal ist etwa 60 Jahre alt. Über einem mittelbreiten Schnurrbart blickt er uns verletzlich aus sehr blauen Augen an. Wir befinden uns im Wahllokal der kleinen Republikanischen Partei. Der Rada-Deputierte gehört zu den „ekelhaften Demokraten“ aus der Westukraine. Als ich ihn nach seinem Beruf frage, sagt er: „Musiklehrer konnte ich nur bis 1970 sein. Dann wurde ich wegen antisowjetischer Propaganda verhaftet, zu sieben Jahren Lager verurteilt.“ Später wurde er Mitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe, das letzte Mal entließ man ihn 1988.

Ich erzähle ihm von der Wählerversammlung in dem Vorort mit der Forderung nach Glühbirnen. „Tatsächlich hat der Sowjetstaat ja bei uns entschieden, beim wem welche Glühbirne brennt. Nicht umsonst tut sich unser Parlament so schwer damit, eine Verfassung zu verabschieden, das heißt, Verantwortlichkeiten abzugrenzen“, erklärt er sich und mir, „und ein großer Teil der Deputierten hat es damit auch gar nicht eilig.“ Dann reckt sich Horbal, als sei er eben noch zwischen den Deckeln eine Tschechow-Romans eingeklemmt gewesen: „Ein Teil der Deputierten sind einfach Agenten. Ja, sogar wenn ich mir Kutschma angucke, der doch in einem Raketenzentrum gearbeitet hat, wie konnte er nichts mit dem KGB zu tun gehabt haben.“

Blümchentapete, alte, wackelige Stühle und ein Plakat aller ukrainischen Herrscher in putzigen Trachten habe ich eben bei den Republikanern hinter mir gelassen. Bei „Ruch“ – „die Bewegung“ – treffe ich sie wieder an. Die Partei hat heute ganze 33 Abgeordnete im Parlament. Zusammen mit den Republikanern und anderen kleinen Parteien bildet sie zur Zeit in der Duma einen Block von 80 Oppositionellen gegen 100 Kommunisten und Sozialisten (200 Deputierte haben bisher getagt, über 100 sollen noch dazugewählt werden).

Alexander Tschernowolenko, Vorsitzender der Kontrollkommission von Ruch, Ökonom in einem Institut für Kybernetik, erklärt mir mit blitzenden dunklen Augen, daß Ruch trotzdem nach den Kommunisten die einzige „große“ Partei im Lande sei. Warum dann so wenige Abgeordnete? „Wir müssen eben erst lernen, wie eine parlamentarische Partei zu arbeiten“, meint der Oberkontrolleur von Ruch: „Aber ein schwerer Schlag für uns war auch, daß mitten in den Wahlvorbereitungen unser stellvertretender Generalsekretär gekidnappt wurde. Man hat ihn bis heute nicht gefunden.“ Natürlich glaubt er „rein persönlich“, daß hier der russische Geheimdienst seine Hand im Spiel hat.

Noch an den letzten Präsidentschaftswahlen nahm der Vorsitzende von Ruch teil. Aber der legendäre Ex-Dissident und Fast- Namensvetter meines Gesprächspartners, Wjatscheslaw Tschornowil, hat diesmal auf eine Kandidatur verzichtet. „Wenn Ruch in der jetzigen Situation Präsidentenwahlen gewänne“, davon ist Tschernowolenko überzeugt, „dann würde die Mehrheit im Parlament einfach den Präsidentenposten abschaffen.“