Eine Nische im Jungbrunnen Von Klaudia Brunst

Meine Freundin sehe ich eigentlich kaum noch. Sie hat nämlich unlängst beschlossen, sich mal wieder ein Stück weit politisch zu engagieren. Einige aufrechte Sozialarbeiter wollen im Sommer mit der benachteiligten Berliner Jugend ein seetüchtiges Segelboot bauen. Wegen Rechtsradikalismus und Perspektivlosigkeit und so. Eine wichtige Initiative also, der es aber leider an Geld mangelt. Deshalb verkauft meine Freundin jetzt an ihren freien Abenden in Berliner Jugendzentren Soli-Bier. Für die gute Sache und so.

Vorgestern bin ich einmal mitgegangen. Damit wir überhaupt mal wieder den Abend miteinander verbringen. Das Programm sei ganz gut, versprach meine Freundin, vor allem die Soli-Bands „Pleasure“, „Orange“ und „Muff Potter“. Sie alle vereint, daß sie sich im Keller des Jugendzentrums „Die Nische“ einen Probenraum teilen. Das hatte meine Freundin allerdings nicht gesagt.

Bislang ist „Pleasure“ in Berlin noch weitgehend unbekannt. Weswegen die „Nische“ sich nur sehr mäßig füllte. Was wiederum den Bierverkauf hemmte. Was dazu führte, daß meine Freundin nicht gebraucht wurde. Weswegen sie sich zu mir in die Disco gesellen konnte. Um uns herum standen zwölf schüchterne Jugendliche auf Plateausohlen und spielten gelangweilt mit ihren Peace-Kettchen. „Wie wir damals“, flüsterte mir meine Freundin melancholisch ins Ohr. Es war das letzte, was ich an diesem Abend von ihr hören sollte. „Pleasure“ hatte soeben die Arbeit aufgenommen.

Mit zwei virtuos wechselnden Gitarrengriffen und einem wild um sich schlagenden Drummer zog „Pleasure“ uns sofort in den Bann. Mir hatte es vor allem die Bassistin angetan, die mit ihren 13 Jahren schon so selbstvergessen auf der Bühne stand, wie ich es seit „Osiris“ auf unserem Mittelstufenfest nicht mehr erlebt hatte.

Gut gelaunt organisierte ich uns zwei „Soli-Becks“ und versuchte mich an das comme il faut der Jugendkultur zu erinnern. Nach dem dritten Lied fiel mir tatsächlich alles wieder ein: daß man Bierflaschen am besten in die Lederjackentasche steckt, daß Zigaretten mit der hinteren Sohle der Turnschuhe ausgetreten werden – und daß man vor dem Küssen am besten die Zahnspange in der rechten Hand versteckt. Meine Freundin hatte als geschulte Pädagogin natürlich keine Probleme mit der Etikette. Souverän entledigte sie sich ihrer Schuhe und hottete zu den beiden Gitarrengriffen auf der Tanzfläche ab. Ich, die ich in diesen Dingen schon immer etwas schüchterner war, ließ mich erst bei „Orange“ überreden, es ihr gleichzutun. Dann aber war der Abend wirklich großartig. Mit jenem angenehmen Übelkeitsgefühl, das semiprofessionelle PA- Anlagen schon zu „Osiris“-Zeiten in meinem Magen auszulösen pflegten, fegte ich durch die zwölf immer noch tatenlos herumstehenden Jugendlichen, wagte trotz meines politisch korrekten Kurzhaarschnitts sogar einen Haartanz und fand mich, als der Jugendwart um 22 Uhr zum Aufbruch drängte, tatsächlich mit meiner Liebsten knutschend auf einer Matratze wieder.

Traurig, daß es schon so spät war, verließen wir die „Nische“ in Richtung Bus. „Zweimal Schüler“ bestellte ich beim Schaffner. „Na, gute Frau, das ist doch schon ein Weilchen her“, meinte der. Keine Ahnung, der Mann.