■ Die Türkei zwischen Kemalismus und Islamismus geht den Weg einer widersprüchlichen Modernisierung
: Auf gebrochener Identität gebaut

Wer sich mit der Türkei beschäftigen will, muß lernen, mit Widersprüchen umzugehen. Sicherlich gibt es ein über Jahrhunderte gefestigtes Türkei- und Türkenbild in Europa. Über Jahrhunderte hat die Türkei das „Gegeneuropa“ repräsentiert, das Reich des Fremden, das identisch mit dem Bösen war. Nach dem territorialen Rückzug der Türken aus Europa machte das Bild vom „kranken Mann am Bosporus“ in Europa die Runde. Die moderne Türkei wurde im Lazarett geboren. Der Erste Weltkrieg und der darauffolgende türkische Befreiungskrieg (1920–22) forderten Millionen von Toten. Aus dem Vielvölkerstaat Osmanisches Reich sollte ein Nationalstaat Türkei geboren werden, auf Kosten vor allem der armenischen und der griechischen Minderheit. [...]

Trotz des proklamierten Nationalstaats und der Assimilierungspolitik gegenüber der im Lande gebliebenen letzten großen Minderheit, den Kurden, blieb die Türkei bis heute ein Vielvölkerstaat, ohne dies auch politisch zu akzeptieren [...]. Was bedeutet türkische Identität heute? Und welche Rolle spielt die islamische Religion, zu der sich über 99 Prozent der Bevölkerung bekennen?

[...] Die Türkei scheint eines der wenigen muslimischen Länder auf der Welt zu sein, in denen die Religion erfolgreich zur Privatsache geworden ist. Das türkische Modell gilt als Prüfstein dafür, ob eine Gesellschaft von Muslimen erfolgreich ein säkulares Gesellschaftssystem aufbauen kann. Frömmigkeit und Glaube sind in einem solchen System Angelegenheit der Privatperson, nicht des öffentlichen Lebens oder gar des Staates. Die überwiegende Mehrheit der türkischen Muslime akzeptiert mittlerweile diese Regel und ist auch bereit, sie zu verteidigen. Da aber die Prinzipien der islamischen Religion von Reform und Modernisierung der Gesellschaft weitgehend unangetastet blieben, besteht dennoch für manchen Gläubigen ein oft kompliziertes Spannungsverhältnis: Kann er als gläubiger Muslim loyaler Bürger eines Staates sein, der Religion und Politik streng trennen möchte? [...]

Zur Zeit findet in der Türkei eine gezielte Unterwanderung der Institutionen des Landes durch Islamisten statt, die vor allem in der Ära Özal (1983–1991) toleriert und teilweise auch gefördert worden ist und die in ihren Auswirkungen nicht unterschätzt werden darf [...]. Der 1993 verstorbene Staatspräsident Turgut Özal verkörperte den westlich-liberal orientierten Muslim, der aus seinem Glauben, aber auch aus seiner modernistischen Orientierung keinen Hehl machte. Repression kann in einer sich pluralistisch entwickelnden Türkei keine Antwort mehr auf Ideologien sein, die die herrschende Ideologie in Frage stellen. Darüber gibt es in der Türkei mittlerweile einen breiten Konsens, der sogar von Teilen der Armee getragen wird, die weiterhin einem starken Kemalismus anhängen.

Der traditionelle Kemalismus wird auch heute von einem linearen Fortschrittsmodell geleitet, für das Modernisierung und Aufklärung einer Gesellschaft identische Begriffe sind. Widersprüche, die im Prozeß der Modernisierung selbst angelegt sind, werden weitgehend ausgeblendet. Religiöser Fundamentalismus wird nicht als ein Bestandteil der Moderne begriffen, sondern als Bestandteil einer von ihr überwundenen Epoche. So entsteht eine Dichotomie der Gesellschaft in „fortschrittliche“ Kemalisten und „rückschrittliche“ Islamisten. Dieses einfache Weltbild steht dem Verständnis der Komplexität moderner Gesellschaften im Wege und macht es schwierig, zum Beispiel die Rolle des Militärs und der Gewalt in der türkischen Gesellschaft offen zu diskutieren. Tendenzen der Gegenmoderne im zum Vorbild für Aufklärung und Fortschritt verklärten Westen wie etwa irrationalen Heilslehren oder dem neuen Rechtsradikalismus steht man ratlos gegenüber.

Die kemalistische Konzeption der Moderne setzt bei der Französischen Revolution an. Sie wird ausschließlich von einem positivistischen Weltbild beherrscht. Das Licht der Aufklärung wird wahrgenommen, nicht aber das Dunkel der Romantik oder auch der nach wie vor den europäischen Geist mitbestimmende Katholizismus. So entsteht eine Fehldeutung der europäischen Moderne als ein leuchtender Pfad der Erkenntnis und des Fortschritts. Atatürk ging sogar so weit, mystische Orden in der Türkei zu verbieten. Rigoros sollten die alten überlieferten Glaubensvorstellungen zum Schweigen gebracht werden, sie sollten den Wissenschaften weichen, mit denen man den technischen und zivilisatorischen Fortschritt messen zu können meinte. Die moderne Türkei wurde zu einem Experimentierfeld, auf dem die Aufklärung ohne den Skeptizismus der deutschen Romantik, die kulturpessimistischen Ahnungen Nietzsches und die Untergangsvisionen Spenglers wieder in ihren rationalistischen Ursprüngen auflebten, um das Land in die Sphären der zeitgenössischen Zivilisation zu katapultieren. Europa repräsentiert für die Kemalisten diese Zivilisation, auch wenn die Wirklichkeit Europas in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinem aufkeimenden Faschismus wenig mit den philosophischen Visionen der Aufklärung zu tun zu haben scheint.

Die Zukunft der Demokratie in der Türkei hängt einerseits von dem Umgang mit der „alternativen“ Ideologie des Islam ab, andererseits von dem Umgang mit der ungelösten Frage der Minderheiten, vor allem der kurdischen.

Der Erfolg der Modernisierung in der Türkei hängt aber auch vom Gelingen der Beziehungen zu Europa ab. Die Europäer selbst spielen dabei nicht immer eine glückliche Rolle. Zu wenig wird bisher begriffen, daß die Türkei nicht nur ein Nutztier europäischer Interessen in der Region ist und sein kann. Sie ist vielmehr ein Vermittler zwischen den Gegensätzen, zwischen als unüberbrückbar geltenden Gegensätzen, zwischen „Morgenland“ und „Abendland“. Wer sich mit der Türkei beschäftigt, wird schnell merken, daß feste Bilder von Identitäten keine Geltung mehr haben, daß hier ein ganzes Land auf gebrochener Identität aufgebaut ist. Doch genau damit tun sich viele Europäer schwer. Sie wollen die Türkei als ein exotisches, manchmal auch feindliches Land erhalten. Sie hinterfragen nicht ihr undifferenziertes Bild von einem rückständigen, halbfeudalen, patriarchalischen, muslimischen Land im Orient. Ein solches Land kann, den historisch gewachsenen Bildern in ihren Köpfen entsprechend, nicht Teil Europas sein.

[...] Die türkische Volkswirtschaft rangiert mittlerweile auf Platz 17 in der Welt. Die achtziger Jahre brachten durch eine erfolgreiche Liberalisierung der Wirtschaft einen nicht zu übersehenden Aufschwung. Türkische Unternehmer sind mittlerweile ernsthafte Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Der immer noch sehr hohe Geburtenüberschuß gerade in strukturschwachen Regionen und die rasante Binnenwanderung vom Land in die Großstädte, vor allem nach Istanbul (die Region Istanbul hat inzwischen mehr als zehn Millionen Einwohner), sorgten für große soziale Spannungen, deren Lösung noch aussteht. [...]

Gewalt ist eine Konstante der weiterhin patriarchalisch-männlich bestimmten türkischen Gesellschaft. Autorität leitet sich von der Ausübung oft willkürlicher Gewalt ab – in fast allen Institutionen, in der Familie, in der Schule, in der Armee. Eine Modernisierung der türkischen Gesellschaft ohne Modernisierung des türkischen Erziehungssystems, dessen Entwicklung in den zwanziger Jahren steckengeblieben ist, scheint undenkbar. Erziehung vom hörigen zum mündigen Bürger ist unbedingte Voraussetzung für die Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft. [...]

Die Türkei verfügt über eine weitgehend freie Presse- und Verlagslandschaft, in der eine solche Debatte um Modernisierung geführt wird. Kulturelle Debatten in der Türkei bleiben jedoch in Europa – so auch in Deutschland – weitgehend unbekannt. Man begnügt sich mit den bereits existierenden Bildern über dieses Land, zusätzliche Informationen dienen zumeist nur zur Verstärkung dieser Bilder. Gerade weil zwei Millionen Türken auf Dauer in Deutschland leben werden, hat diese Desinformation fatale Folgen. Wie soll es einen deutsch-türkischen Austausch geben, ohne daß türkische Kultur in all ihren Facetten in Deutschland mit Interesse und Neugier aufgenommen wird? Reichen Berichte über die Armenierverfolgung im Jahre 1915 aus, um die Entstehung der modernen Türkei zu begreifen? Reicht die Floskel von der „deutsch-türkischen Freundschaft“ aus, um Vertrauen und Nähe zu schaffen? Wer weiß hierzulande etwas darüber, wie das Leben an türkischen Universitäten aussieht? Wie es um die Presse steht, um Verlage, Autoren? Um das Theater? Um die Philosophie? Wie werden Identitätsfragen und Geschichte in der Türkei reflektiert? [...] Zafer Șenocak

Der Autor ist türkisch-deutscher Essayist. – Der Text ist ein Vorabdruck aus „Der gebrochene Blick nach Westen“, einer von Zafer Șenocak herausgegebenen Sammlung von Aufsätzen türkischer Wissenschaftler und Journalisten zu Positionen und Perspektiven der türkischen Kultur. Das Buch erscheint demnächst im Berliner Babel-Verlag.