Europawahl ist ein Votum gegen den Senat

■ Bündnis 90/Die Grünen wurde bei der Europawahl stärkste Partei in Kreuzberg / Kreuzbergs Bundestagsdirektkandidat Christian Ströbele: Bündnis 90/Die Grünen müssen in der Auseinandersetzung mit...

Bei den Europawahlen wurde das Bündnis 90/Die Grünen in Kreuzberg mit 34,1 Prozent stärkste Partei. Auch in Schöneberg lagen die Grünen mit 27,6 Prozent fast gleichauf mit CDU und SPD. Christian Ströbele ist Direktkandidat von Bündnis 90/Die Grünen für die Bundestagswahl im Stimmbezirk Kreuzberg/Schöneberg.

taz: Wenn am vergangenen Sonntag Bundestagswahl gewesen wäre, hätten Sie das erste Direktmandat in der Geschichte der Grünen gewonnen.

Christian Ströbele: Überraschend ist in Kreuzberg für mich der Vorsprung von fast acht Prozent vor der SPD. Ich denke, das ist eine ganz tolle Ausgangsbasis für die Bundestagswahl.

Was hat der Kreuzberger SPD- Bezirksbürgermeister Peter Strieder, der sich bemüht, im grün-alternativen Bereich Stimmen zu bekommen, falsch gemacht?

Diese Europawahlen sind sehr stark bundespolitisch bestimmend gewesen. Das war eine ganz klare Abfuhr von Kreuzberg für Scharping, und das ist zugleich der Versuch, eine Alternative zu wählen. Die Leute wollen keine Autos auf der Oberbaumbrücke, sie wollen den Tiergartentunnel nicht, und sie wollen eine Mietpreisbindung, damit der Kreuzberger Kiez erhalten bleibt. Man darf aber nicht übersehen, daß das gute Wahlergebnis auch mit der niedrigen Wahlbeteiligung zusammenhängt. Wenn bei der Bundestagswahl 25 Prozent mehr wählen gehen als bei der Europawahl, dann muß die Mehrheit von denen auch erst noch überzeugt werden, daß sie den Direktkandidat von Bündnis 90/Die Grünen, Ströbele, wählen sollen. Bisher war das eine bloße theoretische Möglichkeit, jetzt ist es eine ernste realistische Möglichkeit, dort auch Erfolg zu haben.

CDU und SPD haben in Gesamtberlin jeweils 28 Prozent erzielt – also weiterhin eine große Mehrheit für eine Große Koalition. Mit den 14 Prozent von Bündnis 90/Die Grünen aber hätte Rot-Grün immerhin 43 Prozent und damit eine rechnerische Mehrheit, weil die CDU gar keinen Bündnispartner mehr hat, mit dem sie zusammengehen könnte.

Sicher hat sich in Berlin etwas in der politischen Landschaft verändert. Das Wahlergebnis im Osten ist eine ganz schallende Ohrfeige für den Senat, wie man sich das drastischer nicht vorstellen kann. Die hohen Ergebnisse für Bündnis 90/ Die Grünen, nicht nur in Kreuzberg und Schöneberg, sondern auch in Tiergarten und anderen Innenstadtbezirken, ist auch ein Votum gegen diesen Senat.

Die SPD ist in der Auseinandersetzung mit der PDS auf den Bauch gefallen. Wie muß Bündnis 90/ Die Grünen mit der PDS umgehen?

Man muß sie ernst nehmen. Ganz offensichtlich können dezidiert linke Positionen, auch wenn sie letztlich gar nicht in der PDS abgesichert sind, durchaus Wähler finden. Die PDS ist außerdem stark verankert in der Bevölkerung. Das kann man nicht nur auf die alten Kader abschieben. Man muß mit ihr rechnen und ernst nehmen, daß die Leute wollen, daß eine solche Kraft in der Politik was zu sagen hat. Das heißt nicht, daß man sie als Regierungsbündnispartner nehmen kann. Aber in der Auseinandersetzung muß man das alles berücksichtigen und kann sie nicht nur abtun als ewig Gestrige.

Muß das bedeuten, daß Bündnis 90/ Die Grünen ihr linkes Profil wieder schärfer herausarbeitet?

Darum bemühe ich mich. Bündnis 90/Die Grünen muß auch in den Ostbezirken versuchen klarzumachen, daß wir für realistische linke Positionen stehen.

Würden Sie aus der relativen Mehrheit von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen schließen, der Kurs geht hin auf ein neues rot- grünes Bündnis?

Das ist noch zu früh, sowas zu sagen. Das Wahlergebnis jedenfalls, was Bündnis 90 /Die Grünen anbetrifft, ist durchaus ein Hoffnungsschimmer für eine neue rot- grüne Variante und eine, in der grün natürlich sehr viel mehr zu bestimmen haben würde, als das unter dem damaligen König Momper der Fall gewesen ist. Was wir noch daraus lernen müssen, ist, daß die Interessenlage im Osten eine andere ist und auch Bündnis 90/Die Grünen wie die SPD und andere Parteien diese Interessen vernachlässigt. Es genügt nicht alleine, daß man Milliardenbeträge hineinpumpt. Man muß deren Rechte ernst nehmen. Für die Eigentumsfrage beispielsweise muß man neue Lösungen finden. Wenn wir das nicht schaffen, ist im Osten die PDS die einzige Alternative, die sich darstellen kann, daß sie die Interessen der Leute vertritt. Da müssen wir viel mehr tun und viel weniger nur auf Geld sehen und allgemeine Phasen dreschen.

Ist für Sie als Vertreter einer Partei, in der ein Teil die Wende herbeigeführt hat, das Ergebnis der PDS erschreckend?

Das gibt mir schon zu denken. Offenbar vergessen die Leute ganz schnell, wer Entwicklungen möglich gemacht hat und wer an der Spitze der Freiheitsbewegung der DDR gestanden hat. Offenbar spielt das bei den Wahlen überhaupt keine Rolle mehr. Man orientiert sich an dem, was im Augenblick das Problem ist. Interview: Gerd Nowakowski