■ Der Westen, Europa und der Mittelmeerraum
: Das abgestoßene semitische Erbe

Der Mittelmeerraum – von Bosnien bis nach Algerien – ist nicht mehr der Traum Europas, sondern sein Alptraum. 50 Jahre lang war er das Urlaubsparadies der Europäer, nun wird er zunehmend als Gefahrenherd, als Bedrohung für den „Westen“ dargestellt. Der Westen gibt sich als belagerte Festung, die Gefahr läuft, von ausufernden Einwandererströmen überflutet, politisch destabilisiert und Opfer terroristischer Attentate zu werden. Der Okzident sieht sich dem Islam gegenüber und stellt sich gegen den Mittelmeerraum.

Der Diskurs der Angst weitet sich – von den Massenmedien gefördert – immer weiter aus. Nur selten wird nach dem wirklichen Machtgefälle gefragt und danach, wer eigentlich wen bedroht. Was würden wir denken, wenn die Verhältnisse plötzlich umgekehrt wären, wenn wir mit einem solchen Übergewicht an wirtschaftlichen, finanziellen, technologischen oder militärischen Mitteln konfrontiert wären? ... Das Gerede von Drohungen ist unbegründet. Aber das hindert den Diskurs der Angst nicht daran, eine Meinungsführerschaft zu übernehmen, die quasi natürlich eine Bewegung zur „Verteidigung des Okzidents“ hervorruft.

Im Namen der „Verteidigung des Okzidents“ hat Henri Massis von der „Action française“ 1935-36 bei den konservativen Intellektuellen Frankreichs für die Unterstützung der Invasion Athiopiens durch das faschistische Italien geworben. Im Namen der „Verteidigung des Okzidents kämpfte die extreme Rechte Frankreichs für die Aufrechterhaltung des Kolonialismus in Algerien. Und im „Namen der Verteidigung des Okzidents“ muß heute, wenn man Samuel Huntington glauben darf, von einem euromediterranen Projekt Abschied genommen werden. „Die Bruchlinien zwischen den Zivilisationen“, sagt Huntington, „sind die künftigen Frontlinien. Der Konflikt zwischen Islam und Okzident ist 1.300 Jahre alt. Er wird nicht von heute auf morgen verschwinden.“ Unter diesen Bedingungen „ist es klar, daß der Okzident daran interessiert ist, vor allem innerhalb seiner eigenen Zivilisation eine größere Kooperation und engere Einheit zu fördern, besonders zwischen der europäischen und der nordamerikanischen Komponente“!

Das neue Bühnenbild für die Zeit nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums ist also fertiggestellt und das neue Gesicht des Westens gezeichnet: eine euroatlantische Solidarität im Namen einer zivilisatorischen Kontinuität. Das nennt man einen strategischen Vorschlag.

Dieser Begriff des Westens dient in Wirklichkeit dazu, ein Lager aufzubauen und die Kulturen und Zivilisationen zu separieren, indem man sie hierarchisiert. Aus der Nähe betrachtet erscheint der Okzident aber als das, was er ist: eine Maske, eine Legende, eine eingebildete Gemeinschaft, die es erlaubt, disparate Interessen zusammenzuführen und divergierende Weltanschauungen zu verschmelzen. Der Begriff des Westens ist ein Köder, aber auch ein Trugbild, das nicht nur tendenziell die Konzeption eines Europa als eine autonome und einzigartige politische, wirtschaftliche und kulturelle Einheit zunichte macht, sondern auch eine neue unerbittliche Grenzlinie zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers zieht.

Der Okzident bildet sich also gegen den Mittelmeerraum. Eine solche Vorstellung von der Welt ist in der Geschichte tief verankert. 1492 ist ihr Gründungsakt, die Inauguration, wo das Konzept des Okzidents Form annimmt, indem es das Andere – und das sind im wesentlichen das Jüdische und das Muslimische, damals integraler Bestandteil des europäischen Wesens – ausschließt und sich seiner entledigt, und zwar auch physisch. Dieser Versuch, den semitischen Teil des europäischen Erbes auszuschließen, ist genau das, was heute den Gegensatz zwischen Westen und Europa ausmacht.

Der Kampf um den Mittelmeerraum ist deshalb vorrangig ein Kampf um die Wiedereingliederung dessen, was Alain de Libéra zurecht das „vergessene Erbe“ nennt. Aber es geht nicht nur um einen Kampf um die Vergangenheit, um die unabdingbare Wiedereingliederung der so wichtigen arabischen und jüdischen Ressourcen der europäischen Kultur. Der Mittelmeerraum ist in Europa ein neuer Begriff. Dieses wird wieder ein Ort der Sinnstiftung, es erweist sich wieder als kreativ und hört auf, Modelle, die aus dem Norden kommen, nachzuahmen.

Der kreative Mittelmeerraum ist ein Pol des Widerstands gegen den Okzidentalismus wie gegen den Islamismus und den Nationalismus. Er setzt sich von all dem ab durch seine Lebenskunst, sein Verhältnis zu Raum und Zeit, durch seine verschiedenen plastischen, musikalischen, literarischen und visuellen Ausdrucksformen. Dieser Widerstand ist kein Rückzug, keine Isolierung, kein Partikularismus, sondern die Bestätigung eines universellen anderen, einer grundsätzlichen und gewollten Pluralität. Dieser Widerstand ist nicht vergangenheitsbezogen, keine Verteidigung und Illustration einer alten Folklore. Es ist ein Kampf, um in der Welt einem anderen Wesen zum Durchbruch zu verhelfen, um eine andere Form der Welt zum Leben zu erwecken.

„Viva la muerte“ – es lebe der Tod. Dieser Schrei hat im heutigen Mittelmeerraum von Bosnien bis Algerien eine große Resonanz. Die Kräfte des Abstoßens und Zurückweisens sind mächtig. Werden die Kräfte eines nach vorne weisenden Projekts noch mächtiger sein? Es liegt an uns. Thierry Fabre

Redakteur der Zeitschriften „Esprit“ und „Confluences Méditerranée“. Aus: „Libération“, 20.5.94, Übersetzung: thos