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■ Aus Norwegen nach Ffm: Die Bak-Truppen mit „Peer“ (oder war's „Superpeer“?)

Die norwegische Stadt Bergen ist ein verregnetes Nest. Bei den Bewohnern geht die Sehnsucht um, das Meer ist zu rauh, die Welt ist zu grau — so denkt man stundenlang dasselbe. Das Theater, wie es ihr norwegischer Dramatiker Henrik Ibsen schuf, spielt in regendichten Salons; nur einmal, da brach Henrik aus und jagte seine Figur Peer Gynt rund um die Welt. Als Peer tropfnaß wiederkam, riefen die Bak-Truppen aus Bergen vernehmlich: „Peer, du lügst ja.“ Es wurde ihr ständiger Stück-Titel – für alle Fälle.

Im Regen sitzen und angelogen zu werden, das wollten die zehnköpfigen Bak-Truppen nicht. So zogen sie aus, quer durch Europa, um niemals zu lügen. Nicht wie Ibsen, der um der Wahrheit willen gelogene Geschichten erzählte, aufgeführt von lügenden Schauspielern, in Theatern gespielt, die der Wahrheit halber das Licht verlöschen und die nichts in der Welt mehr fürchten als daß ein Geräusch, ein Zufall, ein Unglück aus der wahren Realität hinein ins fest ummauerte Theater fällt.

Die Bak-Truppen spielen in Frankfurt bei weit geöffnetem Garagentor in der TAT-Probebühne in der Daimlerstraße. Draußen regnet es in Strömen. Eine der Spielerinnen schaut sehnsüchtig durchs Fenster auf die Industriebrache in Frankfurts Osten. Die Zuschauer rauchen und trinken. Als ein Hocker tatsächlich unter dem Gewicht eines Schauspielers zusammenbricht, grinsen die norwegischen Bak-Truppen glücklich, weil die wirkliche Wahrheit und das eigentlich Reale tatsächlich auf ihrer Seite stehen. Eine Windboe weht ins Theater. Die Bak-Truppen erzählen, daß sie hier schon zweimal gespielt haben (das stimmt). Dann zünden sie einen antiken Kanonenschlag, nicht ohne anzumerken, daß er aus 18-Karat-Blattgold bestünde (das stimmt wahrscheinlich). Sie erzählen vom Wunsch, 365 Elvis-Briefmarken zu erwerben, vom Gang ins Postamt, um an jedem Schalter die 20 oder 50 vorrätigen Elvis- Briefmarken zu kaufen, so lange, bis das Postamt elvisfrei ist. Sie erzählen die Geschichte ebenso kurz, wie sie hier wiedergegeben wird. Sie verstellen ihre Stimme nicht, sondern beugen sich über eine Helium-Gasflasche, nehmen einen kräftigen Zug daraus und piepsen mit vereister Mickey-Mouse- Stimme Anekdote um Anekdote (und jede stimmt bestimmt).

Wenn sie zwischendurch tanzen, sieht es aus wie ein mißglückter Schuhplattler. Sie springen in die Luft und schlagen mit den Händen auf die Hacken. Daß sie nicht wirklich tanzen, wenn sie tanzen, und nicht wirklich singen, wenn sie singen, ist kein Zeichen prätentiösen Ungenügens, sondern das Eingeständnis, tatsächlich weder singen noch tanzen zu können. Andernfalls würden sie lügen. So geht ein Lachen durchs Publikum, kein hämisches, eher ein vergnügtes, fast ein Glückslachen.

Um Glück – falls nach dem Inhalt des „Theaterstücks“ gefragt werden würde – um Glück in seiner einfachsten Dialektik geht es den Bak-Truppen noch am ehesten: Da alle unglücklich sind, ist es ein Glück zu bemerken, von den anderen nicht ausgeschlossen zu sein. Nicht ausgeschlossen zu sein, heißt, stets das zu tun, was die meisten auch tun: dasselbe. Solch resoluter Wille zum Mittelmaß wohnt der „Dramaturgie“ aller Bak- Truppen-Stücke inne: Jede Inszenierung gleicht der anderen. Alle Inszenierungen heißen „Peer“ und auch mal „Super-Peer“, jede Aufführung ist allenfalls die komprimiertere Fassung aller vorangegangenen Stücke, bei jedem Male tragen die Spieler himmelblaue Kontaktlinsen und singen ihren selbstgebrauten Schlager „Made in Hongkong“. Ihr Theater läßt sich von Inszenierung zu Inszenierung wiedererkennen wie eine Popgruppe, die auf jedem Konzert vertraute mit neuen Songs mischt. Die ihren Anspruch somit nicht höher hängt als ein kleines, glucksendes Glückslachen auszulösen, eines, wie es Ibsen in seinem verregneten norwegischen Nest nie hat auszulösen vermocht. Arnd Wesemann

TAT-Probebühne: noch heute und am 11. Juni