Gesellschaftsspiel und Krise

Yuppie und alternativer Karrierist – Inkarnationen eines spielerischen Generationstypus. Ein Rückblick  ■ Von Harry Nutt

Die Deutschen müssen lernen, den Gürtel wieder enger zu schnallen, heißt es in Fernsehfeatures über die „Neue Armut“ in unseren Landen. Man kann dort Naturwissenschaftler sehen, die nach Langzeitarbeitslosigkeit nun von Sozialhilfe leben; Bankrotteure einst florierender Unternehmen; obdachlos gewordene Computerprogrammierer. Arbeitslosigkeit wird ein Kernproblem der kommenden Jahre sein.

Die 90er Jahre sind eine Zeit tiefgreifenden sozialen Wandels. Der Soziologe Heinz Bude hat darauf aufmerksam gemacht, daß man bei der Beschreibung solchen Wandels zwischen nachholendem und drohendem unterscheiden muß. Die Akteure des nachholenden sozialen Wandels, beispielsweise des gesellschaftlichen Aufbruchs in den 60er Jahren, verhalten sich offensiv gegenüber Institutionen und Autoritäten, weil sie glauben können, die Geschichte auf ihrer Seite zu haben. Demgegenüber erzeugt der drohende Wandel defensive Akteure, die sich gegen soziale Deklassierungen kaum strategisch zur Wehr setzen können.

Genialität und Verelendung

Strategie, Defensive und Offensive sind Begriffe, die heute überwiegend in Sport und Spiel benutzt werden, und tatsächlich waren die 80er Jahre als jüngste Phase eines nachholenden Wandels unter der Kategorie des Spiels zu beschreiben. Es war die Zeit der distinktionsversessenen Lebensstilgruppen, die das wissenschaftstheoretisch gemeinte anything goes lebenspraktisch durchsetzten. Es war eine Zeit modischer Selbstinszenierungen, die auf dem Höhepunkt gesellschaftlicher Prosperität durchaus karnevalistische Züge trug. „Die wilden Achtziger“ schwankten auf bizarre Weise zwischen Professionalität und Dilettantismus, zwischen Genialität und Verelendung. Karneval, das Umkehrritual, ist stets auch eine symbolische Ausdrucksform von Krisenbewältigung. So gesehen hätte man vielleicht gerade die ostentative Verschwendung der Yuppies als Ausdruck eines Krisenbewußtseins lesen können.

So recht gemocht hat den Yuppie niemand. Großes Mißtrauen begleitete seine risikoreichen Börsengeschäfte, die am 19.10.1987 dann ja auch zum Börsencrash führten. Letztlich war er ein Hasardeur und Spieler, für die Arbeitsgesellschaft eine zugleich faszinierende und verachtenswürdige Figur. Als gesellschaftliche Fiktion war der Yuppie in erster Linie eine Abstoßungsfigur.

Interessanter als der Yuppie selbst scheint seine Risikopräferenz, die auffällige Bereitschaft, für das Erreichen eines Ziels sehr viel zu riskieren. Denn insgesamt standen ja die 80er Jahre im Zeichen des Risikobegriffs. Ulrich Beck skizziert in seinem berühmt gewordenen Buch über die „Risikogesellschaft“, wie die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einhergeht mit der Produktion von Risiken. Die Industriegesellschaft hat zu einer sich selbst gefährdenden Zivilisation geführt. Der Modernisierungsprozeß wird in der Risikogesellschaft reflexiv, sich selbst zum Thema und Problem. Vor diesen Horizont stellt Beck den schillernden Begriff der Individualisierung. „In der individualisierten Gesellschaft muß der einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.“ Die Fähigkeit zum Umgang mit Angst und Unsicherheit wird zu einer Schlüsselqualifikation.

Aufstieg in den Wartesaal

Diese Risiko-Konstellation traf die Generation der in den 80er Jahren 20- bis 35jährigen wie keine andere bundesrepublikanische zuvor. Ihnen drohte die Beruflichkeit zwar noch nicht entzogen zu werden, sie mußten aber ihr Leben daraufhin organisieren, gar nicht oder nur phasenweise zu ihr zugelassen zu werden. Risikopräferenz bedeutete für sie nicht Wahl, sondern einen oft paradoxen Entscheidungszwang ohne Alternative. Dabei gehören sie der Generation an, die es einmal besser haben sollte. Dieser altväterliche Tischspruch war Ende der 60er Jahre zum bildungspolitischen Konzept formiert und flächendeckend während der sozialliberalen Koalition durchgesetzt worden. Einer gesamten Generation waren umfassende Bildungs- und Aufstiegschancen eröffnet worden. Dieses Kernstück sozialliberaler Politik mündete auf komfortabel asphaltierten Straßen bald im Stau. Statt in den Genuß eines geregelten Arbeitslebens, mit gleitender Arbeitszeit und Urlaubsanspruch, Renten- und Sozialversicherung zu gelangen, fanden sich die 78er auf paradoxe Weise in einer „gleitenden Lebenszeit“ (Reihard Mohr) wieder. Von der abgeschlossenen Lehre in die Umschulung, von der Hochschule ins Taxi, vom Zivildienst in die AB-Maßnahme; was bei der Kartenverteilung als new deal intendiert war, mündete im Wartesaal, in dem die Sponti-Sentenz: „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ mit wasserfester Farbe an die Wand gesprüht war. Ausgestattet mit den besten Voraussetzungen zum sozialen Aufstieg, mußten sie zunächst einmal in Lauerstellung verharren. Es sind jedoch keineswegs die blockierten Aufstiegschancen allein, die die Gefühlslage der 78er ausmachten und sie in ein ganz und gar spielerisches Verhältnis zu zukunftssichernden Handlungen brachten.

Sie sind ja in zweifacher Hinsicht eine Erbengeneration. Viele entgingen der Taxifahrerkarriere, indem sie in das Geschäft des Vaters einstiegen und so materiell unter den gebremsten Aufstiegschancen nicht zu leiden hatten. Die Eltern halfen bei einer Geschäftsgründung mit einem zinsfreien Darlehn aus oder beherbergten die junge Kleinfamilie in einer geräumigen Eigentumswohnung. Materiell ging es in der Geschichte der Bundesrepublik, das ist angesichts der begrenzten Aufstiegschancen paradox genug, keiner Generation so gut wie den 78ern. Erst die heute 18- bis 28jährigen, die „Generation X“ (Douglas Coupland), werden als die Generation in die Geschichte eingehen, die den Lebensstandard ihrer Eltern nicht mehr erreicht.

Die Erbschaft der 78er war aber auch eine politische, und diesbezüglich mußten sie die gleiche Erfahrung machen wie in ihrer beruflichen Biographie. Sie waren zu spät gekommen, sie sahen sich, zumindest vorübergehend, als Generation, die den Zeitpunkt historischer Umwälzungen verpaßt hat. Sie wurden vom 68er-Strudel zwar noch berührt, aber nicht mitgerissen und waren nunmehr „Zaungäste“ (Reinhard Mohr). Narzißtisch gekränkt reagierten sie allerdings nicht direkt auf die als schlecht prognostizierten Berufs- und Aufstiegschancen. Sehr viel tiefer schmerzte sie die allgemeine Mißachtung ihrer politischen und kulturellen Aktion. Meistens blieb ihnen die Anerkennung ihrer geistigen Väter versagt.

Jobben für den Winter auf Gomera

Nicht daß dieser Generationstypus nicht versucht hätte, zum politischen Akteur zu werden. Seine Zeit war die der großen Demonstrationen von Brokdorf und anderswo. Anstelle utopischer Gesamtmodelle werden nun konkrete individuelle Erfahrungen gesucht. In Berlin wird er auf dem Nollendorfplatz anläßlich eines Reagan- Besuchs von der Polizei eingekesselt und vom Tränengas eingenebelt, in Grohnde besetzt er Strommasten unter Lebensgefahr, aus Protest gegen den Bau eines Kernkraftwerkes. Seinen alltäglichen Kampf gegen das Kapital ritualisiert er durch das Klauen im Supermarkt. Immer handelt es sich um symbolische und spielerische Protestformen gegen den Zuwachs an gesellschaftlichen und ökologischen Risiken. Sein Einsatz ist geprägt von persönlichem Mut bei gleichzeitigem Eingeständnis, in der großen Maschinerie nur ein unbedeutendes Rädchen zu sein. Sein Zuschauerdasein wird ihm bewußt, als er in nächtlicher Fahrt zur Großdemonstration in die Wilster Marsch aufbricht, ohne je zu den Kämpfen am Bauzaun zu gelangen. Was die „Tagesschau“ als harte Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten geschildert hat, ist in seiner Erinnerung längst zu einem Stück ironischer Selbstdistanzierung geworden – ein Samstagnachmittagsspaziergang in der Marsch.

Der beschriebene Sozialtypus ist keineswegs ein tragischer Verlierer in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Er lernt es sukzessive, seine Sozialisationserfahrungen in eine Haltung zu transformieren, die ihn in spielerischer Art und Weise auf Abstand zu sich selbst bringt. Die fehlende Beruflichkeit überdauert er in Jobs, bei denen sich durchaus gut verdienen läßt. Manches Mal ist ein geschäftlicher Coup zu landen, von dem sich eine Zeitlang leben läßt. Im Sommer jobben, um auf Gomera überwintern zu können, ist seine bescheiden lebensnahe und zugleich expressive Lebensphilosophie, die nichts von Rentenversicherung wissen will.

Der Computerfreak schreibt aus einer Laune heraus ein Programm, mit dem er in eine Marktlücke stößt, und in der Wartezeit auf einen Studienplatz für Medizin entschließt sich die Arzttochter, ein Feinschmeckerrestaurant aufzumachen, das zum Szenerenner wird. Nach nächtelangen Fahrten im Taxi zur Finanzierung des Studiums gründet der Germanistikstudent mit einem Juristen und einem Wirtschaftswissenschaftler ein Taxi-Kollektiv, das bald floriert. Aus dem Demonstrationstourismus heraus entsteht ein alternatives Buskollektiv, das die Freunde des sanften Tourismus ohne Kerosinverbrauch in die Toskana befördert. Die strikte Verweigerung jeglicher Kapitalakkumulation ist längst einer flinken Geschäftigkeit gewichen. Spätestens hier wird klar, daß der stigmatisierte Yuppie nur das Alter ego des jungen Aufsteigers war, der Selbstverwirklichungsprogramme, ökologisches Bewußtsein und Kapitalismus zusammenzubringen versuchte.

Chaos und ordentliche Buchführung

Die Erfahrung, daß trotz guter Startchancen nicht alle Wege in die gewünschten Karrierebahnen offenstanden, haben die 78er mehr oder weniger erfolgreich in Berufstätigkeit verwandeln können, gerade weil sie in der Lage waren, Umwege und Stillstand als spielimmanent zu verstehen. Das Patchwork aus Lebensstilen und Jobs bestimmt die Lebensplanung, die allenfalls noch eine Lebensphasenplanung sein kann und vor Rückschlägen und Deklassierung nicht gefeit ist.

Es sind nicht wirklich Risikooperationen in einer konkreten Notlage, die den 78er noch zum Aufsteiger gemacht haben. Seelischer wie geschäftlicher Haushalt basieren bei gewissen Neigungen zum Chaos auf einer ordentlichen Buchführung. Zu den besten Freunden zählen versponnene Künstler ebenso wie Steuerberater und Rechtsanwälte. Auf jeden Fall aber hat er als Sozialisationserfahrung verinnerlicht, daß Zufallsentscheidungen und Spielstrategien

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zu Erfolgen führen können, wenn die klassischen Karrierekanäle verstopft sind. Geld ist für ihn etwas, womit und – wenn auch sehr viel seltener – worum man spielt. Die ostentative Verschwendung ist vielleicht gerade in dem Moment ein Ausdruck des Protests, wo man eine Affirmation des Kapitalismus vermutete.

Der Strukturwandel der Berufswelt, in der immer mehr Arbeitsplätze von der Produktion in den primären und sekundären Dienstleistungsbereich verlagert werden, ist noch keineswegs abgeschlossen. Waren 1973 noch 41 Prozent in produktionsorientierten Tätigkeiten beschäftigt, so schätzt man für 2010 nur noch 28 Prozent in diesem Bereich. Der Freiberufler und der mehrfach qualifizierte Berufsmensch, der unser 78er gezwungenermaßen ist, hat sich den Erfordernissen hoher sozialer Mobilität nicht angepaßt, er brachte sie schon mit. Herkunft und Bildung waren keine Garanten einer beruflichen Determination, sondern allenfalls Bonuspunkte in einem Losverfahren. Sein Arbeitsleben, in das er mit einiger Verspätung eintrat, war von Anfang an auf kein festes Berufsbild festgelegt. Zwar ist aus ihm nicht das Genie geworden, das er werden wollte, aber spießig konnte man seine Lebensumstände schon aufgrund seiner relativen Ungesichertheit nicht nennen. Ein Kernstück seines Profils ist die Erfahrung, daß Qualität und Leistung keineswegs immer und überall die Auswahl- und Erfolgskriterien sind, sondern in hohem Maße ergänzt werden durch Bluff und Verstellung. In diesem Zusammenhang sollte die Risikopräferenz des beschriebenen Generationstypus deutlich geworden sein. Sie ist nicht bloße Verausgabungslust, ein besinnungsloses Leben für den Augenblick, sondern erweist sich oft als einzige Möglichkeit, mit Lebensplanung umzugehen. Risikopräferenz ist das Attribut einer sozialen Strategie, die bislang meist im Zeichen von Irrationalität und Indifferenz kritisiert wurde.

Daß Anfang der 90er Jahre der Zauber der inszenierten Lebensstile mit einem Schlag vorbei war, sollte den kritischen Menschen jedoch nicht allzu froh stimmen. Vielleicht kann man es auch so sagen: Die aus dem Glücksspiel und den Vorgängen an der Börse gewonnene Risikopräferenz, die in Gestalt des Yuppies eine Zeitlang ein faszinierendes Verhaltensmuster war, ist nur so lange von Bedeutung, wie es einer Gesellschaft gelingt, sich selbst zu spielen, und wie sie es sich leisten kann, den Spielern Raum zur Selbstdistanzierung zu lassen.

Von unserem Autor wird im August eine Studie zur Soziologie des Glücksspiels erscheinen: „Chance, Risiko und Glück“, Fischer Taschenbuch, Reihe ZeitSchriften.