Prüfstein für die Linke

Abschiedsgedanken zum Abzug der Alliierten aus Berlin / Gibt es einen linken Antiamerikanismus? / Der Abzug ist nur Umrüstung  ■ Von Ekkehart Krippendorff

Vor mehr als zehn Jahren (ich war gerade nach wiederum zehn Jahren im Ausland nach Deutschland zurückgekehrt) begegnete ich in Berlin an einem warmen Sommertag ganz zufällig einer amerikanischen Panzerkolonne auf der Straße: offensichtlich zu einer Übung ausgefahren oder davon zurückkehrend. Ich bin ein überzeugter Gegner alles Soldatischen, halte jeden Mann in Uniform für eine Krüppelversion des Menschen, für die Umkehrung und Perversion des „aufrechten Ganges“ – das Bild mit den drei Stadtkommandanten erübrigt, so scheint mir, die ausführliche Begründung dafür: Das wollen ernsthafte, erwachsene Menschen sein? Ein Anblick der Lächerlichkeit – oder zum Fürchten, und zwar einschließlich der eingepaßten Zivilisten, die sich den drei Kostümierten unterworfen haben.

Aber als ich damals jene behelmten Soldaten so lässig auf ihren Panzerfahrzeugen sah, da war meine unreflektierte, spontane Reaktion eine ganz andere: Ich sah sie freundlich, mit Wohlwollen, ja nicht ohne eine gewisse Zuneigung. Ich war, und deshalb erinnere ich mich so lebhaft dieser Szene, von der meiner antimilitärischen politischen Vernunft so deutlich widersprechenden Gefühlsreaktion zutiefst überrascht. Über dieses Paradox nachdenkend, wurde mir schließlich klar, worauf dieses Gefühl zurückzuführen war: Diese waren einmal meine Befreier gewesen, deswegen fühlte ich mich von ihren Helmen nicht bedroht (so wie ich deutsche Stahlhelme als bedrohlich empfinde), sie hatten mich im Frühjahr 1945 aus dem Keller geholt, mir das freie Atmen wieder beigebracht, uns Jungen Kaugummi zugeworfen, waren Abgeordnete des großen, weit entfernten und darum irgendwie mythischen Amerika. Ich hatte nichts gegen sie, ich sah sie gern und mit Beruhigung, mit Erleichterung.

Die ganz und gar subjektive Reaktion „aus dem Bauch“ sei vorangestellt, sie prägt das politische Argument und die Grundeinstellung; dabei bin ich mir darüber im klaren, daß es da auch die genau entgegengesetzte Reaktion geben wird: Der vietnamesischen Bäuerin zum Beispiel, der dieselben Uniformierten ihr Dorf niederbrannten und den Mann als Vietcong-verdächtig erschossen, der werden beim Anblick eines amerikanischen Soldaten ganz andere Gefühle lebendig werden.

„Vietnam“ aber ist ein wichtiges Stichwort. Bis zu Vietnam, das heißt bis Anfang der sechziger Jahre, war das (west-)deutsch- amerikanische Verhältnis so gut wie das der deutschen Linken zu den USA vergleichsweise unproblematisch. Historisch gesehen war – und ich behaupte: ist es noch immer – es nämlich so, daß die Fortschrittlichen hierzulande, die Liberalen, die Linken, die Sozialisten, in den USA das Land des Fortschritts, der Liberalität, der Freiheit sahen. Wer in Deutschland unterdrückt, verfolgt oder sozial benachteiligt war, dem blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein immer die Möglichkeit der Auswanderung in die Neue Welt. Karl Marx selbst hatte sich mit dem Gedanken getragen, und das Büro der 1. Internationalen wurde auch tatsächlich von London nach New York verlegt. Woodrow Wilson hatte für seine Friedenspläne im Ersten Weltkrieg seine stärksten Verbündeten in der deutschen Linken, bei der Sozialdemokratie.

Umgekehrt war – und ist – es das deutsche Bürgertum, das, bei aller taktischen Anlehnung an die USA und ihre Politik, strategisch, das heißt langfristig und unterschwellig, antiamerikanisch ist. Amerika hat, aus bildungsbürgerlicher Sicht, keine Kultur, keine Geschichte, ist nur materialistisch gesinnt und denkt an nichts als das Geld, den Dollar. „Hollywood“ war für unser Bürgertum ebenso etwas Anrüchiges, ein Schimpfwort, oder wenigstens Synonym für Oberflächlichkeit und Entertainment, wie Jazz etwas Degeneriertes darstellt, „Negermusik“ das Gegenteil von Bach und Beethoven. Das Dritte Reich bezog nicht zuletzt daraus seine kulturkämpferische Abgrenzungsideologie – nicht nur aus dem „Kampf gegen den Bolschewismus“.

Die deutsche Linke (ich merke, jetzt generalisiere auch ich!) hatte es da – und machte es sich – schwerer: Sie unterschied, wir unterscheiden zwischen der Macht- und Interessenpolitik der Regierung, der kapitalistischen Großmacht einerseits, und der reichen Vielfalt, Vielgestaltigkeit und nicht zuletzt dem noch immer lebendigen demokratischen, dem radikal-demokratischen Erbe der amerikanischen Gesellschaft andererseits. In den Jahren von Vietnam hieß das beispielsweise: zu unterscheiden zwischen dem Imperialismus der Regierungen Kennedy/Johnson/ Nixon einerseits und den Rebellen an den Universitäten, den Bürgerrechtlern, den Martin Luther Kings, den Kriegsdienstverweigerern andererseits.

In West-Berlin, wo diese Konflikte sich Ende der sechziger Jahre konzentrierten, hieß das unter anderem: Konfrontation – symbolische, manifestierte, demonstrierte – mit den Repräsentanten und Institutionen des offiziellen Amerika, aber Zusammenarbeit mit den Antikriegsgruppen in den USA, mit jungen amerikanischen Wehrdienstverweigerern hier in der Stadt und Agitation vor, ja in den Kasernen. Für die regierungsoffiziellen Amerikaner war das ebenso wie für ihre deutschen Verbündeten (was bis hin zur Presseöffentlichkeit und in die Universitätsspitzen reichte) schlicht „Antiamerikanismus“. Es kann und braucht nicht geleugnet zu werden, daß es solchen auch bei einer beträchtlichen Zahl von deutschen Linken gibt: Für sie sind alle Katzen grau, alle Amerikaner Imperialisten.

Aber ich behaupte – und stehe persönlich dafür ein – daß es eine bestenfalls lautstarke, aber nicht politisch-intellektuell tonangebende Minderheit ist, der ich selbst die Qualifikation „links“ ohnehin absprechen würde, weil undifferenzierende Antipositionen einen Widerspruch zu jedem linken Anspruch darstellen.

Vielleicht ist die Reaktion auf den nunmehr offiziell besiegelten Abzug der Alliierten eine Art Prüfstein für uns Linke. Es geht dabei im übrigen nicht nur um die Amerikaner, wenngleich sie ohne Zweifel für uns „Wessis“ die „eigentlichen“ Alliierten waren. Aber als Bürger von Charlottenburg zum Beispiel habe ich immer gern, mit Ironie ebenso wie mit tieferer Bedeutung, darauf bestanden, daß mein Staatsoberhaupt die Queen und nicht der westdeutsche Bundespräsident sei. Das ist nun vorüber, und ich trauere dem nach. Natürlich stellen Truppen, stellt Militär keinen wirklichen Internationalismus dar und her. Aber so ein kleines Stückchen Garantie des Erbes vom 8. Mai 1945 waren sie doch – und zwar alle, auch die Franzosen und nicht zuletzt auch die sowjetischen Soldaten.

Die Welt, die ich mir vorstelle – und für die ich politisch und akademisch-intellektuell arbeite –, ist eine Welt ohne Soldaten, ohne Militär. Insofern sehe ich den Abzug der Truppen gern und beobachte mit Vergnügen und Genugtuung, wie ihre Embleme, die Schulterstücke, Uniformjacken, Ehrenzeichen und Mützen dort landen, wo sie hingehören: auf den Trödelmarkt (bislang noch nur die der Sowjets und der NVA). Aber da andererseits ihre Kasernen und Truppenübungsplätze nun von deutschen Soldaten eingenommen werden, der Abzug keine Abrüstung, sondern nur eine Umrüstung darstellt, da möchte es mir schon scheinen, ich hätte mich weniger unwohl gefühlt angesichts amerikanischer (oder englischer etc.) Helme als beim Anblick der deutschen, auch wenn diese nicht mehr ihre Wehrmachtsform haben.

Wo immer in der Welt heute blutig gekämpft – und dann nach Blauhelmen als Friedensstiftern gerufen – wird, da sind es die jeweils eigenen Soldaten, die eigenen Militärs, die ihre Waffen gegen das eigene Staatsvolk richten und benutzen. Bis jetzt hatten wir gewissermaßen die Blauhelme als Alliierte hier vertraglich schon oder noch im Lande... Ich breche an diesem Punkte ab, weil ich mir eine solche düstere Vision eigentlich nicht erlauben möchte.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. In einer Woche schreibt der Ostberliner Klaus Wolfram über das Leben mit den Russen.