Nischenforschung im Verbund

Avantgardetheater in Deutschland, 1. Lieferung: Das Frankfurter Theater am Turm – Anlaufstelle für die Bühnen der westlichen Nachbarn, seit kurzem unter den Fittichen des Stadttheaters  ■ Von Arnd Wesemann

Mit dem heutigen Bericht über das TAT beginnen wir eine Serie von Portraits deutscher Theater, die sich jenseits des konventionellen Repertoirebetriebs bewegen. Die Reihe wird in loser Folge fortgesetzt.

Im Verbund war es stark geworden: Zusammen mit den Wiener Festwochen, dem Berliner Hebbeltheater, dem Brüsseler Kaaitheater und einigen anderen Theatern war aus dem Kammerspiel der freien Szene Ende der achtziger Jahre das Theater der neunziger Jahre schlechthin geworden. Das Frankfurter Theater am Turm, einfach TAT genannt, finanziert seither gemeinsam mit seinen Blutsbrüdern die amerikanische Wooster Group, die nur so überleben kann; sie förderten den Siegeszug der flämischen Avantgarde: Jan Fabre, Jan Lauwers und Anne Teresa de Keersmaeker wurden von hier aufs internationale Parkett geschickt.

Die gemeinsame Stärke beteuert die Bande in einer intelligenten Theaterpublikation, der viersprachigen Theaterschrift, und in einer schlauen Imitation der Bahncard, die dem wahren Theaterfan 50 Prozent Ermäßigung sowohl in Wien, Berlin, Brüssel als auch in Frankfurt bietet.

Nun steht nicht etwa eine erneute Verbrüderung ins Haus, sondern eine handfeste Hochzeit. Das TAT heiratet ins Frankfurter Stadttheater ein. Zum zweiten Mal, nach dem Bayerischen Staatsschauspiel in München, wird eine eigene Sparte „Avantgarde“ in der gediegenen Welt des bürgerlichen Theaters akzeptiert. Das Frankfurter TAT, nach heftigen Etatkürzungen, ging den Weg der billigsten Miete: Unter den Fittichen des Stadttheaters fällt sie jetzt deutlich geringer aus; unter dem Druck von bislang 900.000 Mark Mietkosten jährlich hätte es 1996 das sichere Aus für die renommierte Avantgardebühne bedeutet. Mit einem blauen Auge aus den Querelen der Stadtpolitik davongekommen, schmerzt nur, daß die Direktion hinfort zwei U-Bahn-Stationen weit fahren muß, um die eigene Bühne zu erreichen. Die Büros neben der Bühne an der Eschersheimer Landstraße sind – trotz städtischer Liegenschaft – zu teuer. Selbst im Keller kostet der Quadratmeter monatlich 35 Mark: eine Entscheidung der Stadtoberen, die ab Winter die leerstehenden Räume – Ironie der Sparpolitik – zu einem deutlich niedrigeren Preis anbieten müssen, da die Privatwirtschaft nicht Mieten akzeptieren wird, welche die städtische GmbH (die dem TAT überstellte Kulturgesellschaft) fast in den Ruin getrieben hätten. Sie wird nun aufgelöst.

Die Verwaltung des TAT sitzt ab Ende des Jahres im ehemaligen Abobüro des Schauspiels und ist – nach eigenen Angaben – dem bewunderten und geliebten Ballettstar William Forsythe etwas näher gekommen. Mit ihm möchte das TAT in Zukunft Schulter an Schulter den strategisch geführten Kunstanspruch ans Theater weiterformulieren.

Tom Stromberg, der – bescheiden bezeichnet – Dramaturg des Hauses am Eschenheimer Tor, holte Ende der achtziger Jahre gegen die freie Frankfurter Szene aus. Das TAT, einst Heimat von Peter Handke, Rainer Werner Faßbinder und Hans Neuenfels, war bis dahin als Tanztheaterplattform und als ein Uraufführungstheater für (selbst heute noch) unbekannte Autoren geführt worden. Ein Ensemble um Elke Lang hatte sich gebildet: Die ganze Kleinimitation des Stadttheaters warf Stromberg freundlich, aber bestimmt aus dem Haus. An ihrer Stelle setzte er, der von seinem „Intendanten“ Christoph Vitali freie Hand erhielt, ein dem Berliner Hebbeltheater nicht unähnliches Modell. Doch anders als Nele Hertling in Berlin hatte Stromberg früh den Führungsanspruch in der damals gegründeten Blutsbrüderbande beansprucht, sich eine „Miles and More“-Karte besorgt und seither strategisch jeden Theaterwinkel zwischen San Francisco und Norwegen erkundet, den ihm auch Freund Hugo de Greef vom Brüsseler Kaaitheater empfahl.

Der flämisch-niederländische Theaterstil wurde anfangs Leitmaß des neuen Frankfurter Theaters; mit einem vergleichsweise größeren Portemonnaie als die anderen Theater konnte das TAT zum ersten Anlaufpunkt der bis dato völlig unbekannten Theater der westlichen Nachbarn werden.

Der künstlerische Etat wird, so hofft man nach der Hochzeit, nicht mehr schrumpfen, die Führungsposition könne man also halten und sogar ausbauen. Der japanische Tänzer Saburo Teshigawara, erstmals 1990 von Stromberg nach Frankfurt geholt, danach auf allen Festivals vertreten, choreographiert heute am Ballett Frankfurt. Die Oper von Jan Lauwers, „Orfeo“, ebenso wie Heiner Goebbels' „Glücklose Landung“ haben bislang im TAT zuwenig Platz gehabt; sie dürfen künftig gleich in Peter Eschbergs Schauspiel; dazu spielen dort Christoph Marthaler und Robert Wilson vor einem Frankfurter Sprechtheaterensemble auf, das sich im eigenen Haus nun vermehrt internationaler Konkurrenz ausgeliefert sehen dürfte: Reibereien sind zu befürchten – Strombergs durchaus mit Geld bezahlte Qualitätsmaßstäbe stehen künftig in einem ganz neuen Spannungsverhältnis zur augenscheinlich überkommenen Ensemble- und Repertoireidee des Theaters aus dem 19. Jahrhundert. Stromberg fühlt sich wohl; für ihn scheint es eine großartige Herausforderung, mit einer „vierten Sparte“ dem alten Theater in unmittelbarem Vergleich gegenüberzutreten.

Verluste sind dennoch zu befürchten. Nachwuchs hat im TAT in letzter Zeit immer seltener eine Chance bekommen. Selbst das geplante Performance-Festival setzt nur auf bekannte Namen. Die Strategie des Hauses, namhaften Avantgardisten wie Wilson und Fabre eine konstante Plattform zu bieten, wiegt derzeit und sicher auch im schickeren Ambiente des Schauspiels schwerer, als riskanteren Nachkommen ein verläßliches Forum zu bieten. Über das Next- Generation-Theater beim nächsten Mal mehr.