„Viele Onkel, viele Tanten“

■ Die Händler am Kiewer Bahnhof interessiert der Streit um die Krim nicht

Moskau (taz) – Am Kiewer Bahnhof schwappt die Ukraine nach Moskau über. Auf den halbbefestigten Straßen entlang der Gleise bereiten ukrainische Händler von der Petersilie über die Strampelhose bis zu blutigen Fleischbatzen alles aus, was das große Nachbarland zu bieten hat. Hier beginne ich an diesem freundlich-kühlen Spätmaitag eine kleine Exkursion auf den Spuren des Krim-Konflikts.

Zu fragen gibt es wahrlich genug, zum Beispiel, woher folgende Losung auf Flugblättern an die russischen Soldaten der Schwarmeerflotte stammen könnte: „Ihr Moskowiterschnauzen wollt zwar auf unserer Erde leben und unseren berühmten Speck fressen, aber dabei doch dem guten Zaren Boris dienen“. So was kommt doch sicher von der polnischen Grenze!

Etwa aus Schitomir? Immerhin ist die Stadt Schitomir hier in Gestalt eines wendigen, kompakten Mittvierzigers in schwarzer Lederjacke vertreten, der vor einem Bauchladen mit Gemüse und Grünzeug vom heimatlichen Markt steht. Aber der Mann ist alles andere als konfliktbereit. „Ich habe viele Onkel und Tanten in Rußland“, hebt er an, „wir sollten alle zusammen sein: Rußland, Weißrußland und die Ukraine.“

Schließlich seien die Russen ja auch vor der Perestroika auf die Krim auf Urlaub gekommen. Jetzt, nach dem Zerfall der Sowjetunion, werde leider in die andere Richtung gereist. „Meine Frau verdient 300.000 Coupons, das sind etwa 6 Dollar.“ Ich habe seit zwei Monaten mein Gehalt nicht ausgezahlt bekommen. Mein Sohn studiert auf dem Militärinstitut. Dort bekommen die Jungs nichts zu beißen. Wir schicken ihm jede Woche ein Freßpaket – eins davon kostet schon eine halbe Million. Und wenn Krawtschuk nun plötzlich meinen Sohn auf die Krim schicken will, damit der dort kämpft, dann werd' ich den einfach nicht hinlassen.“

Bei dem Reiznamen „Krawtschuk“ mischt sich unverzüglich seine Nachbarin ein. Lappen und Westen halten sie fest umspannt, als wolle die Frau sich mit dieser Wickeltechnik dem Vorbild der fetten Würste vor ihren Füßen angleichen. Auch die Ex-Bäuerin Marfa ist die verkörperte Nichtaggressivität. Wohlwollens strahlt sie jeden möglichen Gesprächspartner an: „Na, was ist denn überhaupt schon dieser Krawtschuk? Manchmal erhebt er sich aus seinem Plüschsessel und verkündet der ganzen Nation, daß er nicht mehr verdient, als ein Facharbeiter. Sollen wir das etwa glauben?“ Viel höher schätzt Marfa den russischen Präsidenten Boris ein: „Vom ihm allein wird es abhängen, ob es auf der Krim Frieden geben wird oder ein Karabach.“

Aber warum denn nur von ihm? „Na erst mal, weil Rußland ein sehr reiches Land ist“, sagt sie, und ihre Augen weiten sich bei diesen Worten beeindruckt: „Und zweitens ist Jelzin schrecklich schlau, dazu ist er noch selbstbewußt und wird unterstützt – vom Westen. Natürlich denk' ich mir, daß die auf der Krim gern zu Rußland gehören wollen, dann würden sie ordentliche Gehälter bekommen, in einer richtigen Währung, in Rubeln. Sollte ich jetzt was Nichtzensurgemäßes gesagt haben, dann streichen Sie's bitte in ihrer Zeitung. Wie heißt die noch gleich? taz? Wär' das nicht auch 'ne Idee, die hier zu verkaufen? Für Rubel?“

Etwa zwanzig Kilometer entfernt liegt der Ort, der die Moskauer mit dem zweiten Pol des schwelenden Konfliktes verbindet: der Kursker Bahnhof ist das hauptstädtische Tor zur Krim. Von Ruhe und Ordnung in der Heimat berichten die Reisenden, die sich müde dem gerade mit zweieinhalb Stunden Verspätung eingetroffenen Zug aus Simferopol entwinden – dem einzigen an diesem Tag. Wenn man den Berichten der Krimbewohner glauben will, so gilt ihre Hauptsorge zur Zeit der Bestellung ihrer Gemüsegärten. Panzerwagen hat keiner gesehen, nur einige Simferopoler wollen wahlweise eine gewisse Verstärkung der eigenen Miliz oder der ukrainischen Nationalgarde beobachtet haben. Den Tenor formuliert die weißblonde Schaffnerin: „Wenn die da oben sich in was verwickelt haben, dann werden sie sich ohne uns wieder herauswickeln müssen.“

Eine Ausnahme lassen uns die bekümmerten Augen eines älteren Arbeiters ahnen. Er ist, wie zwei Drittel der Krimbewohner, russischer Abstammung. „Natürlich sorgen wir uns“, sagt er, „die Situation ist nicht ganz gesund. Wir setzen alle Hoffnung jetzt auf die Schwarzmeerflotte und auf unseren Präsidenten Meschkow. Die Leute bei uns wollen, daß die Krim eine Republik wird, und zwar nicht nur dem Namen nach, sondern mit allem, was dazugehört. Wir wollen einen Vertrag mit Kiew, der uns davor bewahrt, nur Kolonie zu sein. Widerstand? Womit sollen wir den leisten? Mit bloßen Händen?“

„Es ist uns nicht egal, was passiert“, versichern mir zwei fröhliche junge Männer, die gerade Dill in Kisten packen. Sie kommen aus dem ukrainischen Cherson, dem direkten Nachbargebiet an der Landzunge zur Halbinsel Krim: „Aber es ist zu schön bei uns, jetzt fängt die Badesaison an. Wenn man uns zum Kampf auf der Krim einberufen würde? Da würden wir einfach nicht hingehen. Das hieße ja auf die eigenen Leute schießen. Wir selbst können jetzt schon im Meer schwimmen. Aber die Krim wird von uns nicht wegschwimmen. Da sind wir ganz sicher.“ Barbara Kerneck