Studienabbrecher sind keine Versager

■ Untersuchungen zeigen: Jeden fünften lockt ein gut bezahlter Arbeitsplatz / Schlechte Betreuung und mangelnde Berufsorientierung als Gründe

Studienabbrecher und sogenannte Langzeitstudenten sind die Prügelknaben der Hochschulpolitik. Begabungstheoretikern gelten sie als Rechtfertigung für den Abbau von Studienplätzen, scheinen sie ihnen doch zu belegen, daß die knapp zwei Millionen Studenten in Deutschland unmöglich allesamt begabt sein können. Eine Studie des Berliner Studentenwerks zeigte jedoch, daß die meisten Langzeitstudenten nebenher in einem Berufsfeld arbeiten, das ihrer späteren Qualifikation voll entspricht. Dagegen steht eine Erhebung über die Studienabbrecher in der Hauptstadt noch aus.

Bei einer Untersuchung aus Nordrhein-Westfalen zeigte sich jetzt, daß eigentliches „Leistungsversagen“, also Schwierigkeiten mit dem Studienstoff und Prüfungsangst, erst an vierter Stelle der „Ursachenbündel“ steht, die zur Abbruchentscheidung führen. An erster Stelle stehen dagegen mangelnde Arbeitsmarkt- und Berufschancen, die von den Abbrechern offenbar realistischer eingeschätzt werden. Es folgen Mängel in Betreuung und Didaktik sowie Desinteresse oder Kritik am Studieninhalt. Weitere Ursachen sind finanzielle Probleme, lange Studienzeiten und persönliche Gründe wie Partnerschaft, Familie, Krankheit oder Anonymität. Vor allem Frauen brechen ihr Studium wegen eines Kindes ab.

Das Hochschul-Informations- System (HIS) in Hannover hatte während des Wintersemesters 1992/93 im Auftrag der nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerin Anke Brunn (SPD) eine repräsentative Stichprobenbefragung an den Hochschulen des Landes durchgeführt. Dabei schlüsselte der Abbruch-Experte Karl Lewin neben den „Ursachenbündeln“ auch einzelne Gründe auf.

40 Prozent der Abbrecher gaben den Wunsch nach praktischer Tätigkeit an, ein Fünftel stieg aus, weil ein fachlich interessanter und finanziell attraktiver Arbeitsplatz lockte. Andere Abbruchursachen haben die Hochschulen zu verantworten: Jeder vierte beklagte didaktische Mängel der Dozenten, außerdem empfanden die Exmatrikulierten das Studium als zu stark forschungs- und zuwenig berufsorientiert.

Bei den Männern ist auch der Wehr- oder Zivildienst ein Faktor. Ein Teil der Studenten war den Anforderungen nicht gewachsen, weil zuviel Zeit zwischen Schulabschluß und Studienbeginn lag, andere mußten das Studium unterbrechen, um ihren Dienst abzuleisten.

Allerdings haben rund ein Viertel der statistischen Studienabbrecher ihr Studium eigentlich nur unterbrochen. Sie möchten nach Dienst, Praktikum, Haushaltstätigkeit oder Besserung der Finanzen weiterstudieren, zum Teil aber in einem anderen Fach. Interessant ist auch das soziale Gefälle: Überdurchschnittlich viele Bildungsaufsteiger führen ihr Studium nicht zu Ende.

Die Abbruchentscheidung wird von den meisten nicht bereut. 58 Prozent sind mit ihrer neuen Situation zufrieden, vor allem wegen des festen Einkommens. Gleichwohl ist mehr als die Hälfte der Abbrecher der Meinung, der Hochschulbesuch sei für sie nützlich gewesen. Noch nützlicher freilich, so meinen fast alle, wäre ein Zertifikat über die im Studium erbrachten Leistungen.

In Hessen, wo das HIS eine ähnliche Befragung durchführte, werden solche Zertifikate bereits seit über einem Jahr ausgestellt, sagte Wissenschaftsministerin Evelies Mayer (SPD) bei der Vorstellung der Studie.

Da nur zehn Prozent des untersuchten Abbrecherjahrgangs zum Zeitpunkt der Untersuchung noch arbeitslos gewesen seien, dürfe man den Studienabbruch auch nicht als volkswirtschaftliche „Ressourcenverschleuderung“ ansehen.

In Nordrhein-Westfalen betreibt Ministerin Brunn seit drei Jahren ein Aktionsprogramm „Qualität der Lehre“, das auch eine Reihe von Modellprojekten umfaßt. Darunter ist in Bochum ein reformierter Magisterstudiengang. Er zeichnet sich neben besserer Betreuung und größerem Praxisbezug auch dadurch aus, daß die Studenten nach sechs Semestern mit dem Zwischenabschluß „Bakkalaureus Artium“ aussteigen können.

Karl Lewin arbeitet beim HIS derzeit an einer bundesweiten Studie, deren Ergebnisse frühestens zum Jahresende vorliegen. Ihre Resultate werden verläßlicher sein als bei den Länderstudien: Da noch immer wenige Studenten ins Ausland gehen, ist die Bundesrepublik „ein relativ geschlossenes System“. Bislang gab es kaum verläßliche Zahlen, weil die Abbruchquote sich auf einen Anfängerjahrgang bezieht, dessen Wege bei einzelnen Hochschulen und Ländern kaum nachvollziehbar sind.

Schon nach den bisherigen Ergebnissen steht für Lewin aber fest: „Das Studium wird nicht mehr als Einbahnstraße gesehen, dessen hehrer Schlußpunkt das Examen ist.“ So könne ein Selbständiger, der auf formale Qualifikationen nicht angewiesen ist, für zwei Semester zur Uni gehen, um sich Spezialkenntnisse anzueignen. „Gegen diese Art von Abbruch etwas zu unternehmen“, meint Lewin, „ist gar nicht sinnvoll.“ Ralph Bollmann