Vom Ernst des Spiels

Hier entfalten sich starke Leidenschaften unter der Bedingung ihrer relativen Folgenlosigkeit. Politik als „deep play“ – ethnologische Bemerkungen zum Wahlkampf als Hahnenkampf  ■ Von Michael Rutschky

Der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz, von seinesgleichen als Meister des Faches geschätzt, versteht sich besonders gut auf die Kultur und Gesellschaft der Südseeinsel Bali; er hat dort in den fünfziger Jahren ausgiebig Feldforschung betrieben.

Eine der großen, das Leben der Männer durchdringenden Leidenschaften auf Bali ist der Hahnenkampf – daß nur die Männer daran teilhaben, muß als ungewöhnlich verzeichnet werden, weil in der Regel die balinesische Kultur, wie die unsere schroffen Differenzierungen abgeneigt, auf Gleichstellung der Geschlechter dringt.

Wie die Hähne ihren Männern ein phallisches Bravado ermöglichen, welches ihnen sonst von der balinesischen Indifferenz untersagt wird, ist leicht zu beobachten; überhaupt scheint der Hahnenkampf ein Verfahren, die Auseinandersetzung mit den Dämonen in das ästhetisch und rituell überorganisierte Leben wieder einzuführen.

Dabei kommt es zwar zu Wetten, welcher Hahn welches Besitzers über welchen anderen blutig siegen werde. Doch kann man daran nicht wirklich Geld verdienen. Die Höhe und das Risiko des Einsatzes steigern die Bedeutsamkeit des Kampfes; er ist kein Mittel, ökonomische Differenzen zu akzentuieren. Daß etwa der reichste und mächtigste Mann den erfolgreichsten Hahnenstall besäße.

Auch Prestigewerte werden durch Sieg oder Niederlage im Hahnenkampf – bei dem der unterlegene Hahn in der Regel getötet wird – weder grundlegend verteilt noch umverteilt. Wenn ich richtig verstanden habe, ähneln die Auswirkungen denen von schlechten Kritiken, die sich bei uns ein Theatermann mit seiner jüngsten Produktion einhandeln mag – oder ein Schriftsteller, Maler etc. –: Die Verrisse können gründlich schmerzen; gleichwohl bleibt Kresnik Tanztheatermacher, Kirchhoff Schriftsteller, von Trotta Filmregisseurin.

Clifford Geertz bringt, um die Bedeutung des Hahnenkampfes für Bali zu charakterisieren, eine Formel des englischen Philosophen Jeremy Bentham, dem wir den „Utilitarismus“ verdanken, zur Anwendung. Hahnenkampf sei „deep play“ – was die Utilitaristen verabscheuen –, ein Spiel, bei dem die stärksten Leidenschaften, welche in einer Kultur gebunden sind, entfesselt werden, aber eben nur im Spiel*. Der Hahnenkampf bietet den balinesischen Männern ein anschauliches Bild ihres Lebens, mit Blut und Tod und unerträglicher Spannung, ohne daß sich an diesem Leben, das in Wirklichkeit ganz anders verläuft, das mindeste ändert.

Starke Leidenschaften

Das Meisterhafte solcher anthropologischen Untersuchungen einer fremden Kultur erweist sich stets daran, wie rasch und wie fruchtbar sie unser Imaginieren in Bewegung setzen, welches die Parallelstellen zu dem beschriebenen Element in u n s e r e r Kultur sind. Tatsächlich bloß das Tanztheater von Kresnik, Kirchhoffs Bücher, das Altern des Jungen Deutschen Films?

Oder ist es der Sport, insbesondere der Fußball? Was Geertz von den Ekstasen und den Depressionen der balinesischen Männer zu berichten weiß, verlangt nach Ereignissen von mindestens der Größe eines Stadions. So habe ich mich zu der Überzeugung durchgearbeitet, was in unserer Kultur dem Hahnenkampf auf Bali entspreche, das sei nicht mehr und nicht weniger als die Politik. Im Unterschied zu Bali dürfen Frauen teilhaben; im Unterschied zum Fußball verfügen sie nicht nur über Zuschauerrechte, sie dürfen als H ä h n i n n e n agieren.

„Deep play“, in dem es um Wohl und Wehe, um Schicksalsfragen, um Aufstieg oder Absturz zu gehen scheint, das beginnt bei uns mit der grundsätzlichen Besorgnis, ob womöglich „Politikverdrossenheit“ die Anzahl der engagierten Zuschauer/Mitspieler drastisch verkleinert. Beteiligen sich die Massen an der Masse von Wahlgängen in diesem Jahr? Oder sinken wir etwa unter 70 Prozent? Befürchtungen, die als anschließenden Spielzug natürlich das Plädoyer für den Wahlboykott fordern. Boykottieren läßt sich nur, was als hochwichtige Angelegenheit gilt. Riefe ich zum Boykott von Kresnik auf, ich würde mich lächerlich machen.

Nur für die Hähne, schreibt Clifford Geertz, ist der Hahnenkampf auf Bali wirklich wirklich, und das ist für unsere Hähninnen und Hähne anders. Ob man die Oppositionsfraktion anführt oder die Kabinettsitzungen leitet, das macht zwar einen wesentlichen Unterschied, aber keinen auf Leben und Tod. Insgesamt – und zum Bedauern von Botho Strauß und seinesgleichen – schwindet in der modernen Welt die Bereitschaft, in Konfliktfällen zur Not mit dem Leben zu bezahlen. Der Zivilisationsprozeß schafft das Verhältnis von Freund und Feind als Inbegriff des Politischen zwar nicht ab; aber er dringt darauf, daß keiner seine Option mit Blut bezeugen muß. Im Sinn des dergestalt sublimierten „deep play“, als welches unsere politischen Auseinandersetzungen aufzufassen sind, ist es also ebenso überraschend wie einleuchtend, daß der Politiker, welcher zuletzt einen toten Gegner zurückließ, seinen Sieg kaum genießen durfte. Klar, Björn Engholm trägt unmittelbar kein Gran Verantwortung am Suizid Uwe Barschels. Aber daß er seine politische Karriere schmählich abbrechen mußte, entspricht dem Drehbuch unseres Hahnenkampfs.

Es geht nämlich weiterhin um Sieg und Niederlage in einem möglichst drastischen, existentiellen Sinn. Es ist noch zu früh im Jahr, um wirklich den Gedanken ins Auge zu fassen, der Bundeskanzler sei es nicht mehr nach dem 16. Oktober. Daß das blonde Bürschchen in Niedersachsen Gerhard Schröder keinen „landslide victory“ hat erringen lassen, bringt dem „Bill Clinton aus Osnabrück“ sofort unsere Aufmerksamkeit ein, „er hat ja noch Zeit“. In einer ganz anderen Arena ist zu bestaunen, wie deutlich gerade friedliebende Menschen die Vernichtung des Gegners bezwecken.

„Sehr geehrter Herr Nooke! Mit Aufmerksamkeit haben wir die politischen Ereignisse in Brandenburg beobachtet. Wir versichern Ihnen unseren Respekt und unsere Solidarität. Sie sind trotz großen politischen und öffentlichen Drucks Ihrer Position treu geblieben. Sie widerstanden Lüge und Täuschung, die die Verquickung von Manfred Stolpe mit SED und MfS in der Öffentlichkeit vernebeln. Wir benötigen Politiker wie Sie, die moralisch glaubwürdig sind, denen Wahrheit wichtiger ist als Wahl- und Machttaktik. Gerade diesen Politikern wünschen wir Erfolg im Wahljahr 1994!“

Folgenlosigkeit

Unterschrieben war der offene Brief von Bärbel Bohley wie von Brigitte Seebacher, vom Berliner Korrespondenten der FAZ, von Steffen Heitmann, resignierter Kandidat für das Bundespräsidentenamt, aber auch vom Literaten Lutz Rathenow. Ihr Hahn Nooke, will diese Fraktion wissen lassen, gehört einfach einer höheren Klasse an als Hahn Stolpe und hat deshalb gesiegt, auch wenn er verliert – eine merkwürdige Dramaturgie, aber so steht es im Drehbuch. Daß auch Rainer Eppelmann auf der Liste ist, die sich zu Hahn Nooke bekennt, der Hahn Stolpe weiterhin Lügner nennt, weshalb die sogenannte Ampelkoalition in Brandenburg geplatzt ist, das entzückt die Kenner im Hahnenkampfpublikum als Pikanterie. Rainer Eppelmann ist CDU-Hahn und also unmittelbar dem SPD- Hahn Stolpe konfrontiert, weshalb Mitgliedschaft in einer höheren Liga zu reklamieren sofort als spezielle Wahl- und Machttaktik imponiert.

Mag sein, daß dies insgesamt eine beliebte Strategie unserer Hähne und Hähninnen bildet – wegen des unabdingbaren phallischen Bravados ist die Politikerin unmöglich als Huhn anzusprechen –: Um Machtchancen konkurrierend, sucht man einen besonderen Vorteil in der Behauptung, es gehe gar nicht um Macht. Sondern – wie im zitierten Fall – einzig um die Wahrheit (ob Stolpe die Stasi-Verdienstmedaille von Roßberg oder von Seigewasser ausgehändigt ward). Gut gemerkt habe ich mir den bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber, der in den Auseinandersetzungen um Gauweiler beklagte, daß die „Sachthemen“, und was die CDU von ihnen verstehe, bei weitem zu kurz kämen – ein anderer Versuch, im Machtkampf Vorteile durch Berufung auf die Wahrheit zu erlangen.

Und so ließen sich noch viele Taktiken und Strategien unserer Hahnen- und Hähninnenkämpfe analysieren.

Wie gesagt, der Ausgang eines Kampfes ändert in der balinesischen Gesellschaft gar nichts. Sowie es um ein fremdes Land geht, glaubt man dasselbe ohne weiteres von der Politik. Sogar eine so tiefgreifende Veränderung wie in Italien wird in Deutschland von den Medien unter dem Aspekt erzählt, daß der Wahlausgang wenig ändert an der „politischen Kultur“. So verhielt es sich schon mit den Wahlen im ehemaligen Ostblock – bloß kann die Beobachter das phallische Bravado eines Neuankömmlings, beispielsweise Wladimir Wolfowitschs, eine Weile besonders beschäftigen und zu Phantasien anregen, was an der Welt sich dann doch ändern würde, wenn dieser Hahn gewänne.

In demselben Sinne erzählen wir auch die Wahlen im eigenen Land. Kohl oder Scharping? Aber je leidenschaftlicher wir dem Hahnenkampf folgen, um so tiefer müssen wir der balinesischen Überzeugung sein, daß der Ausgang kaum wirklich zählt. Andernfalls bekämen wir es hinterher – statt mit einem Kater oder einer Depression, weil Scharping oder immer noch Kohl – mit Auswanderungsabsichten zu tun.

Wohlgemerkt, die Botschaft ist nicht, diese Hahnenkämpfe seien eh gleichgültig; wer klug ist, verzichtet auf Engagement. Umgekehrt, die Folgenlosigkeit des Ausgangs für den Weltzustand macht es möglich, daß wir leidenschaftlich an ihnen teilhaben, und das ist der Sinn der Politik.

* Clifford Geertz: „,Deep play‘: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“. In: „Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme“. Suhrkamp 1983.

Soeben erschienen: Michael Rutschky: „Unterwegs im Beitrittsgebiet“. Steidl Verlag, Reihe Essay, 160 Seiten, 20 DM.