Völlig abgeturnt

■ Impressionen vom Deutschen Turnfest in Hamburg

Die Turnfestmeute ist los. Wer vor die Haustür tritt, ist ihrer gnadenlosen Fröhlichkeit ausgesetzt. Hunderttausend Menschen tragen stolz ihre „Festkarten“ wie Goldmedaillen vor sich her. Unter ihren Trainingsjacken spannen sich oft Wampen, denen Turnen wirklich gut tun würde.

Aber genau das scheinen die Teilnehmer hier in Hamburg gar nicht zu wollen. Die Veranstaltungshallen bleiben relativ leer. Statt dessen sind die vorgeblichen Turner pausenlos unterwegs, laufen mit Badelatschen über'n Jungfernstieg oder in grellbunten Trilobal-Anzügen ins Theater. Aber nach sieben Tagen wilder Feierei ist der gebeutelte Hamburger ja schon zufrieden, wenn die Belästigung sich auf's Auge beschränkt.

Doch in der Innenstadt muß man neben Straßensperren auch auf der Fahrbahn trödelnde Menschentrauben in Kauf nehmen, die mit albernen Käppis oder Hoola-Hoop-Reifen uniformiert sind. Dabei scheinen sie ausnahmlos von der Farbe Rot magisch angezogen zu werden. Sich unfallfrei auf dem Drahtesel durch schwäbelnde Radwegblockierer zu klingeln, ist ein Erlebnis der besonderen Art.

Noch schlimmer geht es in Bussen und Bahnen zu. Nicht nur, daß diese ob der Massenbewegung ganztägig Verspätung haben. Auf dem Weg zur Arbeit die taz zu lesen, wird zur Konzentrationsübung, wenn einem Hochleistungssportler im Bierdosenstemmen schon am frühen Morgen lautstark klarmachen wollen, daß man doch bitte anständig mitfeiern möge.

Abends strapazieren aufgekratzte Teeniegirls ihre Umgebungmit gekreischten Disharmo-nien über „Klopapier“ und „Katzenklo“. Und auf der Reeperbahn bie-ten halbwüchsige Joggingho-senfreaks wahllos Passantinnen einen Hunni für gemeinsame Leibesübungen. Wenn man schon mal auf St. Pauli ist...

„Hier machen wir den Hampelmann“, begrüßt eine Boulevardzeitung die Scheinsportler auf großflächigen Plakaten – und sie hat recht damit. Ein Turnsportfreund aus Bayern outete sich gar grölend: „Wir sind blöde, wir sind doof!“

Bald haben wir Hamburger es zum Glück hinter uns. Morgen abend geht der Exzeß der Banausen mit einer wilden Feier im Volksparkstadion zu Ende. Nach diesem letzten Aufbäumen hinterlassen sie uns tonnenweise Müll und therapiebedürftige Mitbürger. Dann ist endlich wieder Ruhe – für ein Jahr.

Im nächsten Juni ist Kirchentag in Hamburg. Mit noch mehr Leuten, einem grünen statt einem roten Kreuz, lila Tüchern statt bunter Polyesterklamotten und Halleluja-Songs statt Stammtischliedern. Es sage niemand, wir hätten ihn nicht gewarnt.

Werner Hinzpeter