Männlicher Interpretationsrahmen

■ betr.: „Formen von Desorientie rung und Verfall“, taz vom 11.5. 94

Eine junge Frau bezichtigt ihren Onkel des sexuellen Mißbrauchs. In der darauffolgenden Auseinandersetzung zwischen ihrem Mann, dessen Eltern und diesem Onkel zündet dieser eine Handgranate und schießt auf weitere Familienangehörige. Das sind die Fakten, die die Medien berichten.

Ich weiß nicht mehr über die Hintergründe und kenne die Beteiligten nicht. Werner Schiffauer allerdings auch nicht. Trotzdem läßt er im Interview über die Hintergründe gleich zweimal anklingen, daß die Beschuldigung der jungen Frau falsch sein könne, weil ansonsten das Verhalten des Onkels im Begründungszusammenhang eines türkischen Ehrkonflikts unlogisch sei.

Dieser „Experte“ für die türkische Kultur ist 1983 durch ein Buch über eine Massenvergewaltigung bekanntgeworden. In diesem Buch beschreibt er auf 140 Seiten mit viel Verständnis die familiären und kulturellen Hintergründe der acht beteiligten türkischen Jugendlichen. Das Opfer dieser Massenvergewaltigung, ein deutsches Mädchen, bleibt bei Schiffauers Betrachtungen völlig außen vor: Ihr passives Verhalten bei der Vergewaltigung, ihre erst nachträgliche Flucht aus der Wohnung versteht Schiffauer nicht, er versucht es aber auch gar nicht. „Ich habe mich nie getraut, Petra Kaiser zu besuchen und sie über den Fall zu befragen“, schreibt er am Ende seiner Untersuchungen.

Auch in dem jetzigen Fall verlassen Schiffauers Überlegungen nicht seinen üblichen männlichen Interpretationsrahmen: Nicht, daß der Onkel zu einer familiären Auseinandersetzung eine Handgranate und Pistole mitbringt, scheint ihm nach einer Erklärung zu verlangen. Statt dessen sucht er zunächst einmal nach Hinweisen dafür, daß die junge Frau ihren Onkel fälschlich beschuldigt haben könnte, was für die Leser die Folgerung nahelegt, daß sie die für das Massaker im Grunde Verantwortliche sei.

Bedenklich an diesem ganzen Vorgang sind aber nicht nur die Thesen von Schiffauer, sondern auch der Umgang der Medien mit seinen und ähnlichen Auffassungen. Wenn deutsche Richter Folter als landesübliche Verhörmethode betrachten und in ihnen deshalb auch keinen Asylgrund sehen, geht zu Recht ein Aufschrei durch die linksliberale Öffentlichkeit. Wird dagegen die Ethnologie dazu benutzt, um mit dem Hinweis auf fremde Normen und Werte die Unterdrückung von Frauen zu legitimieren oder doch zu relativieren, so gilt dies als Ausdruck von Expertentum bezüglich fremder Kultur. Karin Heinrich, Treff- und Informationsort für türkische Frauen e.V./Türkiyeli kadinlar için bulușma ve danișma yeri e.V.