Eselsohren knickt die Computermaus

Theater auf CD-ROM: Am heimischen Bildschirm kann man jetzt mit Sir Laurence Olivier „Macbeth“ einstudieren oder mitverfolgen, wie Inszenierungen von Robert Wilson und William Forsythe zustande kommen  ■ Von Arnd Wesemann

Die Compact-Disc, das kleine glänzende Silberscheibchen, kann längst mehr, als nur Musik abspielen: Selbst in Deutschland boomt eine Kleinindustrie für sogenannte CD-ROM-Technologie. CD- ROM, für „Read Only Memory“, sieht aus wie eine CD, ist auch eine; nur wird sie nicht in die HiFi-Anlage, sondern in den CD-Player des Computers, ins „CD-ROM-Laufwerk“ eingelegt. Auf dem Bildschirm zeigt die Scheibe gleichberechtigt nebeneinander bunte Bilder, kleine Videos, nette Texte und spielt Musik. Weil CD-ROM Videos, Graphiken, Texte, Gesprochenes und Musik durch digitale Technologie gleichermaßen speichern und abspielen kann, hat man diese Technik einfach „Multimedia“ genannt. Nach der CD-Revolution in der Vinylplattenkiste will „Multimedia“ als CD-ROM die Revolten nun im Bücherschrank, am Zeitschriftenkiosk und im Videohandel anzetteln.

Führend im Geschäft der multimedialen Bücherschrankrevolte ist der amerikanische „Voyager“- Verleger Bob Stein. Er hat als erster die graphische Oberfläche des Computerbildschirms für elektronische Buchausgaben so gestalten lassen, daß ein tatsächlich angenehmes Nebeneinander von Schrift, Sprache, Musik, Video und Graphiken möglich wurde. Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“ ist auf CD-ROM mehr als nur illustrierte Literatur, ist auch Biographie, Bibliographie, Bilddokumentation und eine binäre Bibliophilie, ein Lesevergnügen mit allem graphischen Komfort: Virtuelle Eselsohren werden mit der Computermaus geknickt. Bildnisse von Büroklammern dienen als Leszeichen. Virtuelle Bleistiftminen unterstreichen den Text.

Bob Stein war es auch, der jüngst den ersten Schritt ins Theater tat: Mit dem Textbuch von Shakespeares „Macbeth“ kann der Nutzer (so heißt jetzt der interaktiv auf Knöpfchen und Tasten drückende Leser dieses Multimediums) sogar Theater-Karaoke spielen: Auf einem Video im Bildschirm sieht der Bühneneleve einen leibhaftigen Laurence Olivier brummen: „Der Ursprung eures Blutes ist versiegt, die Lebensquelle selbst.“ Der Leser, in der Rolle des Macduff, muß sodann wissend aufsagen: „Eu'r königlicher Vater ist ermordet“, worauf ein gewisser Malcolm ins Bild tritt und lästerlicherweise fragt: „Ha! Von wem denn?“ Neben dem Video läuft der Text mit, wie bei japanischem Karaoke. Genutzt wird dieses ergötzliche Spielzeug von englischsprachigen Schauspielern, die auf den Multimedia-Souffleur völlig eingeschworen sein sollen: endlich mit dem leibhaftigen Laurence Olivier Text lernen ...

Auf CD-ROM sind bei uns bislang nur Touristikberater, Wörterbücher und Ratgeber für Handwerk und Heilkunde erhältlich: Aber fraglich bleibt doch, ob es sich lohnt, gleich den Computer anzuschalten, um sich über die Regenmenge auf Mallorca oder ein Teerezept bei Schnupfen zu informieren. Solcher Ramsch hat die hohe Kultur nicht davon abgehalten, sich des Mediums „Multimedia“ auf intelligente Weise zu bedienen. Seit die „Residents“ und Peter Gabriel auf CD-ROM Anschauungsunterricht in Gitarrenspiel und Videoclip-Produktion samt Interviews und Bühnenshowausschnitten herausgeben, sind auch der Choreograph des Frankfurter Balletts, William Forsythe, und der amerikanische Theatermacher Robert Wilson nicht mehr zu bremsen. Soeben wurden im Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe zwei Prototypen künftiger Backstage-Erfahrung vorgestellt: Forsythes Choreographie „Loss of Small Detail“ und Bob Wilsons „Black Rider“, die zur Buchmesse im Handel erhältlich sein sollen. Der Blick per Computer hinter die Kulisse der Kultregisseure erinnert zunächst an ein theaterwissenschaftliches Oberseminar, nicht an ein volksverbundenes, populäres Vergnügen an der heimischen Festplatte. Doch wird endlich deutlich, was CD-ROM im Gegensatz zu einem elektronischen Oscar-Wilde-Spaß tatsächlich leisten kann: William Forsythes Choreographie „The Loss of Small Detail“ erfuhr im April 1987 seine erste Aufführung und eine prompte Panne: Es sollte eine Aufführung mit computergestützten Klanghandschuhen werden. Jeder Fingerzeig hätte einen elektronischen Klang verursachen können. Doch die Gerätschaft versagte. Erst die dritte Fassung von „The Loss of Small Detail“ erreichte 1991 die Qualität eines tatsächlichen Welterfolges – Ergebnis eines kontinuierlichen Arbeitsprozesses, den der Zuschauer nicht einsehen konnte und dessen Veränderungen er nach vier Jahren auch nicht mehr zu erinnern vermag. Auf der von Seth Goldstein, Volker Kuchelmeister und Christian Ziegler erstellten CD- ROM stehen die ersten Probenmomente zeitgleich neben den Bühnenergebnissen von 1987 und 1991. Das Videomaterial, von Mohsen Hossini zusammengestellt, läuft parallel. Vier Videos im Video lassen unmittelbar die Arbeitsveränderungen erkennen, beschleunigen, anhalten, in Slow Motion studieren.

Performancepraxis und Tanztheorie, Forsythe himself und das Jubiläum „10 Jahre Ballett Frankfurt“ als Anlaß dieser Produktion bilden den Inhalt, durch den der Nutzer per Maus navigiert, in einem Medium, das – so speziell es auch erscheinen mag – seine Vorteile gegenüber den alten Medien wie gute Trümpfe ausspielt: Theater, dieses überaus flüchtige Medium, das nicht mal einer Fernsehaufzeichnung standhält, ohne zu langweilen, hat mit Wilsons und Forsythes Pionierlust zum ersten Mal in der Geschichte der Theaterdokumentation (durch Fotografie, Kritiken, Regieprotokolle etc.) eine zumindest halbwegs befriedigende Dokumentationsmethode erfahren. Die Kamerapositionen sucht der Nutzer selbst zusammen, die Beiinformationen ruft er nach Belieben ab, die kleinen Details, deren Verlust Forsythe im Titel seines Balletts proklamiert, lassen sich nach Belieben aufsammeln und kombinieren. Die Fans, von denen Wilson und Forsythe wahrlich ausreichend besitzen, werden es zu danken wissen, daß sie ernst genommen werden und in die Hintergründe der Arbeit ihrer Stars Einblick nehmen dürfen.