Er war kein Visionär

Am Montag abend starb der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Heinz-Werner Meyer  ■ Von Martin Kempe

Hamburg (taz) – Die Gewerkschaften müssen zum „permanenten Gespräch mit jeder frei gewählten Regierung fähig und bereit sein“, und zwar auch dann, „wenn die andere Seite wenig oder gar kein Interesse zeigt“, schrieb Heinz Werner Meyer 1986 in der Zeitschrift Die Mitbestimmung. Damals war er noch Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE). Aber auch als Vorsitzender des DGB folgte er diesem Leitmotiv – für viele gewerkschaftlich Engagierte zuweilen über die politische Schmerzgrenze hinaus. Am Montag ist Heinz-Werner Meyer während eines Gesprächs im Bundeskanzleramt einem Herzinfarkt erlegen.

Der Dialog, das interne Gespräch, die Kompromißsuche waren für Meyer mehr als notwendige Wege zum Ziel. Er hat sie stets als elementare Voraussetzung des demokratischen Prozesses gegenüber Vertretern einer konfliktorientierten Gewerkschaftspolitik verteidigt. Der 61jährige gebürtige Hamburger wirkte vor Fernsehkameras und auf Marktplätzen eher unscheinbar. Er war kein mitreißender Volksredner, kein politischer Visionär. Aber er war bei seiner Wahl vor vier Jahren auch kein DGB-Vorsitzender des innergewerkschaftlichen Status quo. Meyers Verdienst ist es, nach langen Jahren der politischen Stagnation die längst fällige organisatorische und programmatische Reform des gewerkschaftlichen Dachverbandes in Gang gebracht zu haben.

Meyer war ein Gewerkschafter alter Schule, dessen politisches Weltbild in den Aufbaujahren der unmittelbaren Nachkriegszeit geformt wurde. Mit 16 Jahren fing er als Berglehrling auf der Schaftanlage Monopol bei Kamen an. 1954 wurde er Hauer. Der Gewerkschaftsbeitritt war damals noch eine Selbstverständlichkeit, 1953 trat er auch in die SPD ein. Nach seinem Volkswirtschaftsstudium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg wurde er hauptamtlicher Jugendsekretär in der IG Bergbau und Energie. 1969 rückte er in den Vorstand der Traditionsgewerkschaft ein. Von 1975 bis zu seiner Wahl zum IGBE-Vorsitzenden saß er zehn Jahre lang für die SPD im Bundestag.

Politisch gehörte Meyer zum „rechten“ Lager der Gewerkschaftsbewegung. Klassenkampfparolen waren ihm zuwider, beleidigten geradezu seinen politischen Verstand, dem die differenzierende Analyse näherlag als die vereinfachende Polarisierung. Er war kein allseits akzeptierter Wunschkandidat, als er sich vor vier Jahren zur Wahl stellte und mit mäßigem Stimmenergebnis gewählt wurde. Viele Delegierte hätten lieber eine jüngere Person mit deutlichem Reformprofil an der Spitze des DGB gesehen.

In den folgenden Jahren hat Meyer seine vormaligen Kritiker angenehm enttäuscht. Ein halbes Jahr nach seiner Wahl hielt er in der DGB-Bundesschule in Hattingen eine Rede, die niemand von ihm erwartet hatte: Unter dem Tagungsmotto „Jenseits der Beschlußlage“ entwarf er das Bild einer offenen, dialogfähigen Gewerkschaftsbewegung, die auf die modernen Angestelltenschichten ebenso zugeht wie auf die Frauen und die neuen sozialen Bewegungen. Als Vorsitzender der IGBE hatte er noch hinhaltenden Widerstand gegen die Beschlüsse des DGB in Sachen Atomausstieg geleistet. Als Vorsitzender des DGB suchte er nach langen Jahren der Ab- und Ausgrenzung das längst überfällige Gespräch mit den Grünen. Noch vor wenigen Wochen stellten beide Seiten überraschend viel Übereinstimmung über den notwendigen ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft fest.

Meyer hat die Reformdiskussion im DGB angeregt. Aber die Entscheidungen wurden von den mächtigen Chefs der Einzelgewerkschaften getroffen. Eigentlich wollte er noch bis 1996 im Amt bleiben, um die DGB-Reform zu Ende zu bringen. Nun müssen die Delegierten des im Juni stattfindenden DGB-Kongresses in Berlin unverhofft auch die personalpolitischen Weichen für die Zukunft stellen. Gerade weil sich die Spitzenfunktionäre der Einzelgewerkschaften mit dieser Entscheidung so schwer tun, hatten sie sich im Vorfeld des diesjährigen Kongresses für eine Verlängerung von Meyers Amtszeit entschieden.

Der DGB-Bundesvorstand beauftragte gestern den IG-Chemie- Chef Hermann Rappe als dienstältesten Gewerkschaftsvorsitzenden mit der Kandidatensuche. Die schon früher häufig genannte ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf- Mathies hat schon abgewunken. Sie will den Job an der Spitze der mächtigen ÖTV nicht gegen den Chefposten beim machtlosen Dachverband eintauschen.