„Formen von Desorientierung und Verfall“

■ Werner Schiffauer, Professor für europäische Ethnologie, zu dem Anschlag

taz: Ein des sexuellen Mißbrauchs an seiner Nichte bezichtigter Türke betritt die Wohnung der Familie des Mädchens und zündet eine Handgranate. Wollte der Onkel damit seiner eigenen Bestrafung zuvorkommen?

Werner Schiffauer: Angenommen, der Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs stimmt: Aus Gründen der verletzten Ehre wäre es logischer gewesen, wenn der Onkel geflohen wäre, statt von sich aus die Konfrontation mit der Familie zu suchen. Das wäre zumindest das übliche Verhalten, zumal er der jüngere Bruder entweder vom Vater oder der Mutter der jungen Frau ist und diesen von daher untergeordnet.

Vielleicht hat die Familie den Onkel nach Berlin zitiert.

Das normale Muster wäre, daß er von seinem älteren Bruder aufgesucht und zur Rede gestellt wird.

Die Tochter Eylem heiratete mit 16 Jahren. Bedeutet das, daß ihre Familie sehr traditionell ist?

Das kann sein, aber es kann auch andere Gründe haben. Vielleicht wollten die Eltern das Mädchen unter Kontrolle bringen, weil sie Angst hatten, daß es mit einem Mann durchbrennt.

Können Sie erklären, warum Eylem ihre Familie erst nach der Hochzeit von dem sexuellen Mißbrauch durch den Onkel unterrichtet hat?

Es gibt viele mögliche Szenarien. Denkbar ist etwa, daß sie ihren Mann in der Hochzeitsnacht mit dem Verlust der Jungfräulichkeit konfrontieren und ihm eine Erklärung dafür geben mußte. Die Frage ist, ob diese Erklärung der Wahrheit entspricht oder nicht. Wenn der Onkel nicht mit ihr geschlafen, sondern sie nur sexuell berührt hat, hätte sie vermutlich eher geschwiegen.

Wie weit gehen die Mittel, um die verletzte Ehre eines türkischen Familienmitglieds wiederherzustellen?

Bei den in Deutschland lebenden Immigranten gibt es keinen Automatismus, aufgrund der verletzten Ehre zu töten. In peripheren türkischen Dörfern ist dies unter Umständen notwendig, weil sonst der soziale Status bedroht wäre. In der anonymen Situation bei uns besteht dieser Zwang, Vergeltung zu üben, nicht. Hier wird die Ehrsache mehr oder weniger zu einem Moralkodex und erlaubt eine ganze Bandbreite von Reaktionen. Es ist ebenso möglich, die Angelegenheit zu vertuschen wie im Affekt zu töten.

Ist eine Familie, die seit zwölf Jahren in Deutschland lebt, noch sehr in dem alten Ehrdenken verhaftet?

Bei manchen türkischen Familien kommt es hier sogar zu einer Verfestigung des Ehrenkodex, weil sie eine große Distanz zur deutschen Kultur einnehmen. Aber ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob es sich im vorliegenden Fall um einen Ehrkonflikt handelt.

Es ist durchaus denkbar, daß die junge Frau ihrem Onkel etwas Falsches unterstellt hat und jener darauf mit dieser Aggression reagiert hat. Ich warne davor, von einem kulturellen Automatismus auszugehen. Die Werte sind sehr im Wandel begriffen, und es kommt zu vielen Formen von Desorientierung und Verfall. Als Außenstehender dazu etwas zu sagen ist sehr riskant. Damit würde man die Immigranten zu bloßen Vollstreckern der Normen und Werte ihrer Herkunftskultur machen, so als ob sie keine andere Option hätten. Interview: Plutonia Plarre