„Wir können noch weitere 30 Jahre warten“

■ Von Optimismus, von Freude über das Ereignis von „weltgeschichtlicher Bedeutung“ war gestern bei der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen nichts zu spüren

„Das Abkommen wird nicht zu einem palästinensischen Staat führen.“ „Arafat hat uns verkauft.“ „Wir werden nicht mit Waffen gegen die palästinensische Führung kämpfen, aber mit Worten und Argumenten.“ „Feiern? Gibt's etwas zu feiern?“ Von Freude oder Optimismus, von der Euphorie, die den Handschlag zwischen Rabin und Arafat in Washington am 13. September letzten Jahres begleitete, ist im Gaza-Streifen nichts mehr zu spüren. Die Unterzeichnung des Abkommens wird hingenommen, von Anteilnahme kann nicht die Rede sein. Es wurden keine Feiern organisiert und keine Festzüge. Es wird kein Feuerwerk geben, und PLO-Fahnen sind in Gaza-Stadt schon lange nicht mehr zu sehen. Die Straßen im Gaza-Streifen sind belebt, die Geschäfte geöffnet. Die Menschen haben sich nicht in ihre Häuser begeben, um das Ereignis im Fernsehen zu verfolgen.

Diab Elouh, Chef der Medien- und Entwicklungsabteilung von Arafats Fatah in Gaza-Stadt, nennt die Unterzeichnung des Abkommens ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Was er sonst sagt, ist mit der verbalen Euphorie kaum in Einklang zu bringen. „Wir sehen uns harter Arbeit gegenüber. Wir müssen die Sicherheit hier garantieren. Wir müssen den Menschen ein ziviles Leben ermöglichen und die verrottete Stadt wieder aufbauen.“ Wie die palästinensische Autonomie aussehen wird, weiß er nicht. Er hofft, daß „freie und direkte“ Wahlen stattfinden werden.

Nicht nur diese Haltung der palästinensischen Führung ist für die Opposition ein rotes Tuch. Kritisiert wird darüber hinaus, daß die 9.000 palästinensischen Polizisten ausnahmslos der Fatah angehören und daß die Verhandlungen der letzten Monate undemokratisch verliefen. „Die reden von Demokratie“, sagt Haider Abdel-Shasi, ehemaliger Verhandlungsführer in Madrid und Washington, der nach der Unterzeichnung des Abkommens im September 1993 zurückgetreten ist, „aber sie verhalten sich wie Autokraten.“ Shasis Hauptkritik allerdings ist, daß die Frage der jüdischen Siedlungen in dem jetzigen Abkommen nicht geregelt ist, ebensowenig wie eine Lösung für Jerusalem. „Die Palästinenser müssen sich nicht von dem Abkommen gebunden fühlen“, sagt er, „denn es steht im Widerspruch zu dem, was vereinbart wurde.“

Im Gaza-Streifen leben bei einer Bevölkerungsdichte von 800.000 Einwohnern rund 600.000 Flüchtlinge, 55 Prozent davon in Lagern. Die geschätzte Zahl der Arbeitslosen liegt bei 40 Prozent, manche sagen sogar 60 Prozent. Die meisten leben unter ärmlichsten Bedingungen. Verrottete Straßen, Überbevölkerung, keine Infrastruktur, zu wenig Wasser, zu wenig Elektrizität. Der Müll stapelt sich nicht bloß, er ist einfach da, überall. Er liegt in den Straßen, er liegt auf den brachen Flächen. In ganz Gaza gibt es keine öffentlichen Busse, die die palästinensische Bevölkerung von einem Ort zum anderen, die Kinder von den Schulen nach Hause bringt. Allein die UN- Hilfsorganisation UNRWA kümmert sich um die Flüchtlinge – und wird es auch weiterhin tun. „Es gibt die ausdrückliche Bitte von Arafat, daß wir unsere Arbeit fortsetzen“, sagt der Pressesprecher, Isa El- Qarra. Pläne seitens der palästinensischen Führung für die Flüchtlinge liegen nicht vor. „Also werden wir uns um die Verbesserung der Wohnsituation, um den Bau von Schulen und Krankenhäusern kümmern.“ Die UNRWA ist nicht nur die einzige Institution, die sich um die Flüchtlinge kümmert, sie ist auch der wichtigste Arbeitgeber im Gaza-Streifen. Ein geplantes Krankenhaus wird nicht nur 300 dringend benötigte Betten schaffen, sondern auch 500 Stellen.

„Die Menschen hier werden sehr bald verstehen, daß sie betrogen wurden. Sie werden merken, daß ihr Leben sich nicht verändern wird, daß die Reichen reicher und sie vom Kuchen nichts abbekommen werden“, sagt Rabah Muhanna, Sprecher der oppositionellen PFLP, der palästinensischen Front für die Befreiung Palästinas. Er will, „daß die Palästinenser künftig nicht nur gegen die israelischen Besatzer, sondern auch gegen die palästinensischen Führer kämpfen – mit legalen Mitteln“.

Auch die islamische Hamas lehnt das Abkommen in Gänze ab. „Wir werden an nichts teilnehmen, was das Abkommen und die sogenannte Autonomie bestätigen könnte“, sagt Mahmoud Zahhar, einer der Führer und Direktor der islamischen Universität in Gaza. „An möglichen Parlamentswahlen werden wir nicht teilnehmen.“ Er glaubt, daß Arafat schon von alleine scheitern wird. „Was ist, wenn Arafat versuchen wird, seine eigenen Leute zu entwaffnen? Was will er für die Familien der Gefangenen tun? Was will er machen, wenn jemand von Hamas einen Israeli erschießt? Wie will er reagieren, wenn ein Palästinenser von den Israelis erschossen wird? Und was passiert, wenn Arafat stirbt?“ All diese Fragen stellt er mit einem Schmunzeln und schließt mit den Worten: „Wir haben Zeit. Wir können noch weitere 30 Jahre warten.“ Julia Albrecht, Gaza