„Ich bin kurz davor, jetzt durchzudrehen“

■ Besuch bei Sükran, Peter und Michael, die auf der Knastinsel Hahnöfersand ihre Strafe absitzen, wo am Montag dieser Woche vier Jugendliche gegen die Haftbedingungen meuterten Von Bernhard Pörksen

Sükran lehnt sich zurück. „Ich gebe dir mal ein Beispiel“, sagt er. Er habe an diesem Tag, an den er jetzt denke, wie immer bis etwa 17 Uhr gearbeitet, sei dann nach Hause, um erstmal mit seiner Freundin zu telefonieren. Dann noch ein bißchen in die Stadt, ein Jeanshemd gekauft, Shopping im Hanseviertel, dem Ort seiner Verbrechen. „Ich bin sehr elegant gewesen“, sagt Sükran Alygün und grinst in der größten anzunehmenden Gelassenheit. „Immer nur erstklassige Kleidung. Sogar eine Brille habe ich mir geholt, in die ich Fensterglas einsetzen ließ.“ Er ist dann einfach durch die Straßen marschiert, den Blick nach oben unter die Dächer gerichtet. Unter den Dächern sitzen die Firmen, die meist keine Alarmanlage einschalten, weil sie sich ganz oben sicher fühlen. Und von den Dächern aus läßt sich einsteigen. „Du mußt wissen, daß ich ein sehr sportlicher Typ bin.“

Irgendwann hat er auch an diesem Tag eine passende Firma entdeckt, erzählt er. Direkt unterm Dach. Sogar mit Balkon. Er ist ins Treppenhaus gegangen, hat im Keller ein Fenster geöffnet, die Dachluke begutachtet, ist dann wieder nach draußen und nach Hause, um sich umzuziehen. Ganz in Schwarz sei er schließlich ins Haus zurückgekehrt, ausgerüstet mit einem kleinen Rucksack, in dem sich eine Brechstange, zwei Schraubenzieher, eine Taschenlampe und Handschuhe befanden. So gegen zehn Uhr abends sei das gewesen, zu einer Zeit, in der die Stadt noch nicht geräuschlos ist. Eine gute Zeit für einen Einbruch. Um halb elf ist er vom Dach auf den Balkon gesprungen, hat die Handschuhe angezogen, die Brechstange aus seinem Rucksack geholt, die Balkontür aufgebrochen und im Innern des Büros in aller Ruhe nach dem Tresor gesucht, den er dann aufbrach. An diesem Abend erbeutete er 18.000 Mark. Nur so, um zu provozieren sei er dann nochmal in die Büroküche gegangen, um Messer und Gabel zu holen, die er überkreuz neben den zerstörten Tresor legte. Als ob er gegessen habe. „Naja“, sagte Sükran, „das war so ein Spleen von mir“ - das kuriose Markenzeichen eines Einbrechers, gelegentlichen Scheckbetrügers und Junkies, der etliche Firmen im Hanseviertel ausgeraubt hat und im Monat bis zu 60.000 Mark zusammenstahl. Er wollte den Leuten nochmal zeigen, daß hier ein Profi zugange war, der sogar noch Zeit für bizarre Botschaften fand. Manchmal, erzählt Sükran, eingehüllt in eine Schwade Zigarettenrauch, habe er auch extra Hundekot auf der Straße aufgesammelt, ihn sorgfältig in den aufgebrochenen Tresor drapiert, daneben einen Zettel, auf dem zu lesen stand: ANGESCHISSEN! „Ich muß zugeben“, sagt er, „daß es nicht nur das Geld war, das ich dringend brauchte, um das Gift zu kaufen. Das war nicht nur die Sucht, das hat auch Spaß gemacht. Es war ein Triumph, Leuten die alles tun, um ihr Geld zu sichern, dieses Geld wegzunehmen.“

Sükran Alygün, der im Alter von sechs Jahren aus Corum in der Türkei nach Deutschland kam und der gerade 22 Jahre alt geworden ist, hat über Jahre hinweg Einbrüche gemacht. Immer aus dem einen Grund: immer, um seine Heroinsucht, die ihn schließlich bis zu sechshundert Mark am Tag kostete, zu finanzieren. Gespart hat er nichts, geblieben sind allein zwei Kleiderschränke voll mit teuren Klamotten, die er auf seinen Kundschaftergängen erworben hat. Ansonsten hat Sükran etliche tausend Mark für Heroin ausgegeben, hat schließlich mehrere Gramm täglich geraucht. „Ich bin die absolute Ausnahme“, sagt er, „die meisten sind hier im Knast, weil sie beim Dealen erwischt wurden. Mich hat man beim Einbrechen gekriegt.“

Über die Jahre hinweg ist er etliche Male gefaßt worden. Zuletzt im Februar 1993, als er aus dem zweiten Stock eines Hauses springt, weil die Polizei kommt und verletzt am Boden liegenbleibt. Diesmal wird er zu rund 30 Monaten Haft verurteilt und landet wie die meisten Jungkriminellen auf Hamburgs Gefängnisinsel Hahnöfersand. Jetzt lebt er mit 13 anderen Gefangenen in den Zellen eines Flachbaus, dem sogenannten Haus 2, geht morgens zur Arbeit in die Inselküche, kehrt gegen ein Uhr in seine Zelle zurück. Dann ist er allein, hat seine acht Mark am Tag verdient, schreibt vielleicht noch ein paar Briefe, hängt sich vor den Fernseher. „Es ist so, daß wir hier ganz langsam verblöden“, sagt er, schmeißt eine Kippe durch das Fenster.

Im Herbst soll Sükran, wenn bis dahin keine Drogenspuren in seinem Urin gefunden werden, vorzeitig freikommen. Er will dann studieren, hat die Aufnahmeprüfung für den betriebswirtschaftlichen Studiengang, für den man nicht notwendig ein Abitur braucht. Wenn alles gut geht und er nicht rückfällig wird, gelingt ihm als einer der wenigen die Rückkehr in eine gewisse Normalität. Er wird wieder zu seiner Mutter ziehen, wird seine alten Freunde meiden, die ihm vor sechs Jahren ein erstes Mal Heroin anboten. Er wird versuchen durchzuhalten. Auch im Gefängnis ist die Gefährdung durch die Droge ja allgegenwärtig. Nach einer Untersuchung von 1989 ist jeder dritte Gefangene auf der Insel Konsument harter Suchtgifte. Dreimal ist Sükran, der jetzt seit Monaten clean ist, in seinem bisherigen Leben in Haft gewesen, immer wieder hat er versucht zu entziehen, immer wieder ist es ihm, der in einer Großfamilie unterging, verwahrloste, mißlungen. „Ich will es jetzt schaffen, raus, studieren, ein ganz normales Leben führen“, sagt er, schaut auf die Uhr, packt seine Zigaretten ein. Zeit für den Küchendienst.

Sükran macht sich auf den Weg in Richtung Gefängnisküche. Hier, etwa in der Mitte der Insel, die man über eine Zufahrt erreicht, laufen alle Straßen zusammen. Von hier aus sieht man: das Schulgebäude, die Gefängnishäuser, die Baracken, in denen Häftlinge zu Tischlern, Malern und Maurern ausgebildet werden. Weiter hinten dann die Felder. Ein Kuhstall. Wiesen. Ein paar Baustellen. Ein kleiner Teich. Flachbauten und schwarzrote Backsteinhäuser, die sich geduckt ins Ackerland schmiegen. Auf den ersten Blick: fast eine Idylle, umspült von der Elbe. Auf den zweiten Blick: eben doch ein simpler Knast mit Natodraht auf den Pfosten, elektronisch gesicherten Zäunen, vergitterten Minizellen. Auf den dritten Blick: vielleicht eine mit 167 Gefangenen vollgestopfte Anstalt, fernab der großen Stadt, bestimmt von Hektik und Chaos und wechselseitiger Schikane.

Dieser dritte Blick ist entscheidend. Es ist nicht leicht, ihn zu tun. Es ist nicht mal leicht, überhaupt in den Jugendknast Hahnöfersand reinzukommen. Früher ging es hier liberaler zu. Heute reden sie von „Sicherheitsprüfung“ für Journalisten. Wenn das nichts nützt, um einen loszuwerden, dann machen gerade alle Wärter Urlaub, die einen begleiten sollen. Muß ja immer jemand mitgehen. Dann sind die entscheidenden Wärter leider erkrankt. Wenn es dann aber in einer sich über Wochen ziehenden Genehmigungsprozedur gelingt, vier Besuchstage herauszuschlagen, dann will der Anstaltsleiter Andreas Thiel die Zeit, die man sich in seinem Reich bewegt, am liebsten erstmal wieder auf einen Tag „eindampfen“. Zusage egal. Es werden Termine verabredet, die kurzfristig abgesagt werden, um sie durch Termine zu ersetzen, an denen man sich erstmal wieder verabreden kann.

Und doch werden am Rande dieser sich über fünf Monate hinziehenden Abwimmelungsversuche immer wieder Spurenelemente jener Realität sichtbar, die, so scheint es, den Knastalltag in Hahnöfersand ausmachen. Da nützt es auch nichts, daß Thiel untersagt, mit einem bestimmten Häftling zu sprechen, der auf verschlungenen Wegen um ein Gespräch gebeten hat. Da nützt es auch nichts, daß er untersagt, mit Häftlingen, die einen ansprechen, zu reden. Sie machen sich auch so bemerkbar. Zuletzt am 25. April ein Fluchtversuch von sechs Gefangenen. Vier von ihnen, die auf ein Anstaltsdach geklettert sind, versuchen eine Meuterei auszulösen, das Dach anzuzünden - sie werden nach zwei Stunden wieder eingesperrt.

Zuvor schon hat sich ein Wärter gemeldet. Er will „auf den Tisch hauen“, „auspacken“. Am Telefon ein kleiner Vorgeschmack: es gebe hier Wärter, die Drogen nach drinnen bringen. Nachweislich. Der Wärter verspricht wieder anzurufen, meldet sich noch zweimal und verliert dann mit einem mal begründungslos die Lust an der Auspackerei. Seitdem Funkstille.

Dann wieder: die Gespräche mit einem Häftling im geschlossenen Vollzug, der beiläufig berichtet, daß es hier gerade eine Massenschlägerei gegeben habe. Deutsche gegen Kurden. Kurden gegen Deutsche. Er erzählt, daß er sich zu seiner Sicherheit ein Stuhlbein abgebrochen habe. Es sei unter seinem Bett versteckt. Er fände das ganz normal. „Man kann sich eben nicht alles gefallen lassen, irgendwann gibt es Krieg“, sagt er, den sie hier Paddy nennen und der mit bürgerlichem Namen Peter Klauser heißt. Bis zu seinem Fluchtversuch, so erzählt Peter Klauser, war er im offenen Vollzug, konnte sogar ein bißchen Urlaub machen, von dem er eines Tages nicht mehr zurückkam. So wurde er wieder gefaßt. Schlug sich wieder mit den anderen, um seinen Haß loszuwerden. Haute einem Gefangenen die Faust in den Magen. Kam in die gefürchtete Isolationshaft, wo er einen Zusammenbruch erlebte, sich heiser schrie, gegen die Tür sprang und trat.

Peter, 18 Jahre alt, ist seit seinem 15. Lebensjahr immer wieder im Gefängnis gewesen. Man hat ihn in Österreich in einem geklauten Wagen aufgegriffen. Man hat ihn auf der rasenden Fahrt zum Berliner Bahnhof Zoo erwischt. Er ist in Hamburg nach stundenlangen Verfolgungsjagden von der Polizei gefaßt worden. Jetzt sitzt er erneut bis mindestens November, hat aus purem Zeitvertreib eine Lehre als Autolackierer begonnen. Seine Geschichte ist wohl typisch. Peter Klauser kommt aus dem Heim. Dort hat man ihn in die Welt der Kriminellen eingeführt. Er kann in dreißig Sekunden fast jeden Wagen aufmachen. Im Gefängnis hat er Freunde und Kumpane gefunden, die sich später zu einer Bande von Autoknackern zusammenschlossen. Er hat im Heim, im Knast immer wieder Drogen angeboten bekommen - und genommen. Und er ist, das verbindet ihn mit der Mehrzahl der Häftlinge von Hahnöfersand, ohne jeden Schulabschluß.

Jeder vierte, der hier einsitzt, so die letzte hierzu erstellte Statistik, ist Analphabet. Und viele werden wieder straffällig, knüpfen in der Zelle oft die entscheidenden Kontakte, erwerben die entscheidenden Kenntnisse. Etwa die Hälfte der Jugendlichen, die hierher verfrachtet werden, kehren nach ihrem Aufenthalt wieder zurück. Auch Michael Kedding ist das dritte Mal im Knast. Diesmal: Zelle Nummer 25, Haus I. Kedding ist ein Mensch von 18 Jahren, der so gut wie überall rausgeflogen ist. Den seine Eltern im Alter von acht dem Heim übergeben haben, das ihn genauso wie die Schule nicht halten konnte und schließlich rauswarf. Der bei seinen Eltern erneut einzog und dort nicht zurechtkam. Der wieder von seinem verzweifelten Vater auf die Straße gesetzt wurde und begann, am Bahnhof zu schlafen, in Parkhäusern, in Telefonzellen. Der Einstieg in die klassische Knastkarriere, der Beginn eines verpfuschten Lebens: Michael fängt an, Heroin zu rauchen, um, so sagt er, nachts nicht zu frieren.

Er beginnt, Überfälle zu machen. Zusammen mit Reginald, den er erst in Haft kennengelernt hat. Gemeinsam ziehen sie um die Alster, überfallen Spaziergänger mit gezückter Klinge. Er schlägt sinnlos und erbarmungslos zu, wenn ihm jemand dumm kommt. Zuletzt dann fast ein Mord. Die Anklage lautet auf schwere Körperverletzung. Das Urteil: 27 Monate ohne Bewährung. Kedding hatte einem seiner Opfer ein Messer an die Kehle gesetzt, ein anderer hatte ihm eines in den Bauch und in die Beine gestoßen. Wieder Knast. Jetzt sitzt Michael Kedding in einer Zelle, die zehn Quadratmeter groß ist. Er hört endlos und ununterbrochen Radio, um die würgende Stille zu vertreiben, die ihn sonst befällt. Er geht zur Schule und wird in ein paar Wochen seinen Hauptschulabschluß nachmachen. Er arbeitet und wartet auf das Ende seiner Haftstrafe.

Durch das vergitterte Fenster, das gelbe Gardinen verhängen, fällt warmes Licht. Er wolle etwas zeigen, sagt er plötzlich, kramt im Schrank, holt ein paar Zettel hervor, das seien „so Metaphern für sein Leben“, die er aufgeschrieben habe. Dann sitzt er da, mit seinem Goldkettchen und den Muskeln, die an guten Tagen achtzig Kilo heben, und sortiert Gedichte, die Titel tragen wie „Allein“ oder „Sehnsucht“ oder „Der Weihnachtsmann“, und die von einer kaltgewordenen Welt handeln, von Mord, Trauer und einem schönen Leben, wenn man tot ist. Es sind Liebesgedichte darunter, die für Traumgestalten geschrieben sind. Eines ist auch an die Erzieher gerichtet, die ihn manchmal noch besuchen, die ihm gelegentlich schreiben. Er liest es vor, die erste Seite, dann ist die Unsicherheit weg, liest dann wie im Flug das nächste, das den Titel „Großstadt“ trägt, rappt nahezu ein weiteres, das „Helden“ heißt und für die Leute von Greenpeace gedacht ist. Und während er liest und immer noch ein Gedicht hervorkramt, singen die Toten Hosen von der Kassette: „Ich bin kurz davor, jetzt durchzudrehen...“

Namen der Häftlinge von der Redaktion geändert.