Warte nicht auf beßre Platten

■ „D.E.N.S. – Die eigentlich nicht sind“ – ein Dokfilm

Für die meisten von uns ist, zumindest bis zur deutsch-deutschen Vereinigung, Obdachlosigkeit kaum denkbar gewesen, jedenfalls nicht als angstvoller Eigenantrieb zu einkommensteigernden Aktivitäten. Wie leichtfertig wurden früher Wohnungen, Häuser gar, aufgegeben und – vorübergehend – aus der Reisetasche gelebt. Für Christian, einen jesuitischen Werkzeugmacher, der mit ehemals obdachlosen Männern zusammen in einer Wohngemeinschaft lebt und sich jüngst am Hungerstreik einer Gruppe von aus dem Kreuzberger „Engelbecken“ vertriebener Wohnwagen-Leute beteiligte, ist diese „Randgruppe“ das vielleicht einzige noch verbliebene revolutionäre Subjekt – in seiner Theologie der Befreiung. Der normale Bürger möchte die Obdachlosen am liebsten überhaupt nicht wahrnehmen, und selbst den Kreuzberger Linken fiel die Solidarität mit den „Rollheimern“ schwer, die von „Deportation“ sprachen, als ca. 900 Polizisten und eine Müllfirma ihr Hab und Gut, auf das sie zuvor mit großen Buchstaben „Eigentum“ schreiben mußten, an den Stadtrand transportierten. „D.E.N.S. – Die eigentlich nicht sind“ ist deswegen ein sehr guter Titel für diesen Dokumentarfilm von Carsten Lippstock, in dem es im wesentlichen um sechs Penner geht. Und wären da nicht zwischendrin immer mal wieder kurze Interviews mit Obdachlosigkeits-Experten und -Projektmitarbeitern, würde man nach kurzer Zeit den Dokumentarfilm- Charakter völlig vergessen, so diskret und zugleich dicht rückte das Kamerateam den Hauptdarstellern auf den Pelz.

Gerd Jensch, Erwin, ein weiterer „Kollege“ und der Freund von Else kommen durch den Suff langsam herunter und warten eigentlich nur noch auf nicht mehr anstrebbare „bessere Zeiten“ und „Platten“. Nicht so Else Spritulle (was für ein Name!), die ihren Eigensinn noch durchaus verfolgen kann: „Ich habe keine Lust, dafür arbeiten zu gehen, daß ich im Hotel wohnen darf.“ (Beides hatte ihr das Sozialamt vermittelt, aber im Hotel durfte sie ihren Freund nicht mit aufs Zimmer nehmen, und also ging sie mit ihm zusammen erneut „auf Platte“.)

Wieder anders der obdachlose Georg Heyer, dessen kleinbürgerlicher Eigensinn sogar noch derart intakt ist, daß es ihm gelingt, so sauber und nüchtern wie ein Büroangestellter herumzulaufen. Als Begründung für sein „Versagen“ gibt er die zu „starke Belastung“ in seinem früheren Beruf, Krankenpfleger, an. Kirchliche Aufenthaltsräume besucht er, um dort mal kurz „die Seele baumeln zu lassen“. Folglich ist er es auch, der nach einiger Zeit Anschluß an einen staatlich geförderten Obdachlosentreff findet, aus dem dann u.a. ein Zeitungsprojekt hervorgeht. In einem von der Stadt zur Verfügung gestellten Haus beansprucht er sofort den schönsten Raum für sich.

Sein Gegenpol ist Erwin, der sich, in einem abgewrackten Auto hockend, schon fast aufgegeben hat, sich dann aber dank Georg und dessen pflegerischen Kenntnissen in ein Krankenhaus einweisen läßt, wo man ihm einen halben Fuß amputiert.

Statt Ansätze zu einer Gegenwelt (immerhin ist rund ein Viertel der gesamten Menschheit mehr oder weniger obdachlos) bleibt als Fazit des Films, und auch wohl der meisten mitteleuropäischen Obdachlosenprojekte, dieser Restwille zur kleinbürgerlichen Existenz das scheinbar einzige, wo Helferszene und Selbsthilfegruppen ihre Reintegrationshebel ansetzen (können). Das ist zuwenig! Aber so etwas darf man gar nicht sagen – mit eigener Wohnung, Waschmaschine, Laptop und liquider Lebensabschnittsbegleiterin. Ich gebe es deswegen hier quasi nur zu bedenken.

An einer Stelle läuft ein junger Dichter kurz von rechts nach links und deklamiert: „Verbrannt, an der Pforte zu den süßesten Nächten!“ Daran sieht man mal wieder: „Lyrik ist nichts weiter als ein nasser Lumpen im Spülbecken!“ (Charles Bukowski) Dennoch: Der Film „D.E.N.S.“ ist mit sehr viel mehr Empathie als diese kleine Nörgelei hier an ihm zustandegekommen, und das sieht man auch sofort. Helmut Höge

„D.E.N.S. – Die eigentlich nicht sind“. Regie: Carsten Lippstock, Kamera: Lars Barthel. BRD 1993, 85 Min. Erstaufführung heute in der Berliner Brotfabrik.