■ Nazi-Verbrecher Touvier erhält „lebenslänglich“
: Mythos Résistance

„Wir müssen einen Schleier werfen über jene Zeit, als die Franzosen sich nicht liebten“, begründete Staatspräsident Georges Pompidou Anfang der 70er Jahre seine Begnadigung des zweifach zum Tode verurteilten Ex-Milizionärs Paul Touvier. Die präsidiale Erklärung entfachte einen Sturm der Entrüstung und sorgte dafür, daß der soeben Begnadigte gleich wieder abtauchte. „Jene Zeit“ – das sind die Jahre von 1940 bis 1944, als die Deutschen einen Teil des Landes besetzt hielten und sich in Vichy ein „Staat Frankreich“ (statt der Republik) gegründet hatte, der mit den Nazis zusammenarbeitete. Als es viele KollaborateurInnen und einige WiderstandskämpferInnen gab, als französische Polizisten Juden abholten, um sie in deutsche Vernichtungslager zu deportieren, als die „Judenstatute“ von Vichy den gelben Stern zur Vorschrift machten und als die Vichy-Polizei – die Miliz – die „Reinheit“ der Franzosen gegen Bolschewismus und „Weltjudentum“ verteidigte.

Der Schleier, den Pompidou warf, ist zwei Jahrzehnte später mit dem Verfahren von Versailles zum ersten Mal ein wenig gelupft worden. Die Tatsache, daß der Prozeß gegen Touvier überhaupt zustande kam, nachdem alle anderen Verfahren gegen hohe französische Verantwortliche im Vorfeld niedergeschlagen worden waren, ist schon ein großer Schritt in der französischen Vergangenheitsbewältigung. Touvier ist der erste Franzose, der für Verbrechen verurteilt wurde, die bislang nur Deutschen zugetraut worden waren. Doch damit ist der Wagemut auch schon zu Ende. Statt nach weiteren Verantwortlichen zu suchen, beschränkte sich das Gericht schnell auf die Person des Angeklagten Touvier. Seine rechtskatholische Familie, sein Antikommunismus und sein Antisemitismus standen bald – ganz im Sinne der Verteidigung – im Vordergrund der Verhandlung. Dabei diente Touvier einem Regime, das genau diese Eigenschaften hatte und von seinen Funktionären erwartete.

Der Mythos von den Franzosen als Volk von WiderstandskämpferInnen, den schon Staatspräsident Charles de Gaulle schuf und den alle folgenden Staatspräsidenten hochhielten, hat in Versailles eine neuerliche Bestätigung erfahren. De Gaulle, der als Chef der Résistance besser als jeder andere wußte, wie zahlreich die KollaborateurInnen waren, brauchte diesen Mythos, um den Anspruch seines Landes als Siegermacht zu begründen. Die Résistance und das angeblich gegen die Nazis einige französische Volk wurde zur identitätsstifenden Basis Nachkriegsfrankreichs. Für die Kollaboration und den französischen Antisemitismus gab es keinen Platz in dieser Geschichtsschreibung. 50 Jahre danach hat François Mitterrand die alte Fiktion gerade wieder bestätigt, als er ein Vergessen und Vergeben verlangte. Dorothea Hahn, Paris