■ Wenn die Zugreise zum Horrortrip wird
: „Wie aufgewärmte Leichen“

Prag (taz) – Die zauberhafte Kurzreise gipfelte im Desaster. Aufgequollene Augen starrten Lisa aus dem Spiegel entgegen. Ihr Gesicht war kalkweiß, ihre Lippen trocken. Lisa griff zur Wasserflasche und goß sich den kläglichen Rest ins Gesicht. Ja, und auch John hatte schon bessere Zeiten erlebt. Sein Kopf brummte. Er fühlte sich müde und schlapp. „Wir sahen aus wie aufgewärmte Leichen“, sagt Lisa in Prags Amitreff Jo's Bar. Und nicht nur das. Irgendwelche Schurken hatten sie und John im Nachtzug von Budapest nach Prag betäubt, Johns Hosentaschen fransig geschlitzt und das Gepäck durchwühlt. Geld, Kamera und Schecks – alles weg. „Die hätten mich vergewaltigen können“, sagt Lisa, „der Schaffner mußte uns aus einem tiefen Schlaf wachrütteln.“ Einige Stunde hatte es gedauert, bis Lisa wieder zu sich kam.

Böhmen und vor allem die Moldaumetropole werden gerne als das Chicago der zwanziger Jahre bezeichnet. Das ist völlig überzogen, natürlich. Gleichwohl zählten Prags Statistiker im Jahre 1993 über 2.000 Delikte in tschechischen Zügen und Bahnhöfen. „Das ist gar nicht schön“, stellt denn auch Michaela Zazvorkova, Pressesprecherin der Generaldirektion der Tschechischen Bahnen, leicht resigniert fest. „Es gab keinen Mord und keine Vergewaltigung“, sagt sie, „wir wissen, daß unser Image dennoch sehr leidet.“ Genaueres ist jedoch nur über die Bahnpolizei zu erfahren.

Die ist seit kurzem nicht mehr den Tschechischen Bahnen, sondern der allgemeinen Polizei angeschlossen. Niemand scheint mehr durchzublicken. Wie die Telefonnummern haben sich auch die Zuständigkeiten einzelner Beamter geändert. Anfragen werden von Hinz zu Kunz weitergeleitet und landen zu guter Letzt bei Alex Svoboda, dem Pressesprecher im tschechischen Polizeipräsidium. Den Mangel an Informationen wendet er zunächst einmal mit der Bemerkung ab: „Wenn Sie etwas wollen, dann faxen Sie die Fragen rüber, am Telefon sage ich nichts.“

Na, auch postkommunistische Löwen werden zahm. Svoboda spricht doch. Wenngleich nicht viel. Daß es in diesem Jahr bereits 400 Straftaten gab, hat er herausbekommen, daß man nicht wisse, wieviel Übeltäter auf frischer Tat oder anschließend ertappt wurden, und daß hier und da mal Ordnungshüter undercover durch die Züge streiften. Beikommen könne man den Langfingern kaum. Besonders betroffen seien die Strecken zwischen Budapest und Berlin, Krakau, Prag, Warschau und Wien.

Einige amerikanische Botschaften in Osteuropa plakatieren ihre Informationsräume bereits wie Litfaßsäulen. Es wird gewarnt: „Die Diebe arbeiten in großen organisierten Gruppen“, heißt es beispielsweise, „sie sind blitzschnell und arbeiten sehr effektiv.“ Philip O'Neil wird das nicht bestreiten. Der britische Fotojournalist wollte mit dem Zug von Prag nach Sarajevo. Ein Nickerchen wurde ihm zum Verhängnis. „Man hatte mir irgend etwas in die Nase gesprüht“, erklärt der 28jährige gegenüber Prags englischsprachiger Wochenzeitung, „als ich am Grenzübergang zu Ungarn wach wurde, waren meine Wertsachen gestohlen.“ Ein Schaffner fand seine leere Brieftasche in der Zugtoilette.

Die Tschechischen Bahnen liebäugeln mit Großraumwagen. Aus Sicherheitsgründen. Doch dafür fehlt das Geld. Lisas Leitspruch läßt sich da schneller umsetzen. Bei ihrer nächsten Zugreise will die 27jährige Amerikanerin, wie sie sagt, das Abteil „mit Ketten und Klingeln“ abschotten. Philip O'Neil setzte seine Reise Richtung Kriegsgebiet schließlich fort. „Nichts“, sagte er, „war dabei so gefährlich wie die eigentliche Zugfahrt.“ Tomas Niederberghaus