Schwindende Dinge

■ Das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg zeigt "Photographische Perspektiven aus den Zwanziger Jahren"

Mit grazil gehobenem Bein, die Fußspitze zeigt vornehm nach unten, tanzt ein nacktes Modell kopflos vor dunklem Hintergrund. Mehrfach nebeneinander belichtet, umranken die Tänzerin und ihre Duplikate den Mittelpunkt des Werbeplakates wie eine geklöppelte Borte: „Anton von Waldheims Diätischer Entfettungstee“ (Arthur Benda, 1932). Ein paar Schritte weiter, fettglänzende Maschinen, kugelförmige Spindeln, eine wie die andere, Reihe auf Reihe, dicht an dicht. Der Fluchtpunkt liegt außerhalb des Bildes. Die komplette „Ringspinnmaschine“ sieht nur der Mann mit der Kamera, Albert Renger- Patzsch.

Die Fotografen der zwanziger Jahre, die „Pioniere des Neuen Sehens“, wie Man Ray, August Sander, Lásló Moholy-Nagy, Raoul Hausmann, Henry Cartier-Bresson, Albert Renger-Patzsch und Alexander Rodtschenko werden im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe nicht als enzyklopädisch angelegte Parade großer Namen präsentiert. Die Aussteller wählten motivische Schwerpunkte (Werbung, Portrait, Landschaft, Architektur, Arbeitswelten) und konfrontieren scheinbare Sachlichkeit mit dadaistischen Collagen oder ornamentalen „Beleuchtungsfresken“, wie Moholy-Nagy seine Photogramme nannte.

Es ist, als sollten die 150 Bilder der museumseigenen Sammlung den Streit um Aufgaben der Fotografie noch einmal vorführen: Fasziniert von Gleichförmigkeit und der Ästhetik der Serie, ob vom Fließband oder im Aufbau einer Pflanze, lösen Fotografen wie etwa Renger-Patzsch die eingespielte Bildgestaltung traditioneller Kunstfotografie ab, ersetzen aber auch die alte Monumentalität durch eine neue. Renger-Patzsch, Verfasser des realistischen Manifestes „Die Welt ist schön“ (1928), verwandelt Werkshallen in Kathedralen, symmetrische Blütenblätter in metallische Ornamente. Natur, die ein halbes Jahrhundert zuvor nur als erhabene Ganzheit, als unübersehbare Eiswüste, kaum bezwingbare Gebirgsmasse oder schlierige Waldidylle im dekorativen Gegenlicht fotogen schien, kolonialisiert er mit seinem Objektiv erneut. Der Fotoapparat funktioniert als sezierendes Aufnahmegerät einer kühlen Dokumentation. Die Neue Sachlichkeit verschmäht den kunstfotografischen Schnickschnack der Jahrhundertwende. Statt weicher Aureolen, harmonisierender Perspektiven und „gemalter“ Eindrücke im Edeldruckverfahren, mit denen die Bilder von einst in Wettstreit mit der Naturschönheit des Abgelichteten traten, fahnden die Künstler der Zwanziger nach einer neuen medienspezifischen Bildgestaltung.

Vor allem mit der Leica, die 1925 vom Band ging, brachen die Künstler zum Streifzug auf für eine visuelle Inbesitznahme der Großstadt, ihrer Leuchtreklamen, Warenbänder und ruckelnden Straßenbahnen. Alexander Rodtschenko ist der Passant mit dem Kameraauge, der Gebäude von unten nach oben abtastet, er läßt wie der Zugreisende Telegrafenmasten in Diagonalen untersichtig vorbeiziehen, und vom Fenster blickt er auf das Getümmel der Fußgänger und Autos herab. Mit Rodtschenko wird Fotografie eine Frage des Standpunktes, für Lásló Moholy-Nagy wird sie eine der Struktur. Bis zur Unkenntlichkeit belichtete Gegenstände fusionieren auf seinem „Photogramm“ (1925); Wirklichkeitssplitter als Foto-Graphik statt auf Papier gebannter Realität. Ein Lehrer des Sehens nach ästhetischen Rastern will er sein, spricht von der „Hygiene des Optischen“ und meint damit jenes angestrebte Klassenziel, an dessen hohen Werten sich auch Architektur und Design dieser Jahre versuchten.

Klinisch und fremd wirken daneben Carl Stüwes Mikrokosmen. Die „Zunge einer Weinbergschnecke“ (1927) kann bei ihm wie ein überfüllter Raketenstützpunkt aus der Vogelperspektive wirken. Unendlich viele stählern blinkende Zäpfchen richten sich vor dem Objektiv im Nahbereich auf, angeordnet in militärischer Strenge. Karl Bloßfelds graphisch abgelichtete Blumenstengel und Knospen könnten auch verzauberte Flaschentrockner oder Kleiderständer sein. Seine Blüte ist keine Blüte mehr und erst recht keine Blume, mit Blattadern wie Schweißnähten. Ein Hyperrealismus, der leicht ins Magische abkippt. Plötzlich verschwinden dann die Dinge – Man Rays Solarisationen, Doppelbelichtungen und zerkratzte oder bemalte Negative lassen Körper und Räume imaginär und flüchtig werden. In Christian Schads „Schadographien“ hinterlassen Blumen wie Nägel oder Netze weiße Flecken. Schads Fotopapier kennt keinen Unterschied zwischen Zellulose, Metall und Stoff. Als Vorspiel eines kommenden Surrealismus mutiert das Instrument, mit dem man objektive Wahrnehmungsmängel überbrücken wollte, zum Lichtfänger privater Realitäten. Birgit Glombitza

Bis zum 8. Mai im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg. Der Katalog kostet 49 DM.