Rußland und das Ende (Mittel-)Europas

■ Sieben Staatspräsidenten in Ostböhmen

Prag (taz) – Beim Treffen der mittelosteuropäischen Präsidenten mit Richard von Weizsäcker gab es einen Moment, in dem der eifrige Meinungsaustausch von betretenem Schweigen unterbrochen wurde. Was, so hatte der Moderator der Diskussion gefragt, bedeutet die instabile Situation in Rußland für Zentraleuropa? Und Polens Lech Walesa hatte geantwortet: „Sollten sich balkanische Verhältnisse in den ehemaligen Sowjetrepubliken abzeichnen, so steht uns das Ende Europas bevor.“ Rußland verstehe nicht die „Bedeutung des Wortes Partnerschaft“, diktiere seine Konditionen und sperre sich „gegen einen Dialog“. Zwar hatten auch die anderen mittelosteuropäischen Präsidenten unisono festgestellt, daß die Nato-Friedenspartnerschaft möglichst schnell zu einer Vollmitgliedschaft in der Allianz führen müsse. Die deutlichen Worte des einstigen Elektrikers waren den meisten dann aber doch zuviel.

Möglicherweise ging dieser Diskussionspunkt aber auch weit über die ursprünglichen Absichten Václav Havels hinaus. Als Initiator des zweitägigen Präsidentenreigens im ostböhmischen Litomyšl hatte der tschechische Präsident mehrmals beteuert, daß kein „feindlicher Pakt gegenüber anderen Ländern“ aufgebaut werden soll. Das Treffen mit seinen Amtskollegen aus der Slowakei, aus Slowenien, Polen, Ungarn, Deutschland und Österreich sei rein informell. Diskutiert werden solle über Kooperation, über die Integration Mittelosteuropas in die Europäische Union (EU) und den Krieg im ehemaligen Jugoslawien.

Gleichzeitig lag Havel aber noch etwas am Herzen: Dem von ihm hochgeschätzten Kollegen Richard von Weizsäcker sollte zum Ende seiner Amtszeit in Litomyšl „eine Abschiedsparty“ gegeben werden. So polierten die Böhmen den malerischen Geburtsort des tschechischen Komponisten Bedřich Smetana bereits Wochen zuvor auf Hochglanz, schleppten 50 Heizkörper ins Schloß, karrten edelste Weine und handgemachte Kerzen an. Und ein Ehepaar in spe durfte sich in der Zeremoniehalle des Schlosses an diesem Wochenende nicht das Ja-Wort geben. Grund: mögliche Ruhestörung.

Die tschechische Presse hatte die Philosophie des Präsidententreffens im Vorfeld mit den Worten beschrieben, daß „ungeschriebene Gesetze mehr und mehr an Bedeutung gewinnen“. Und so richtete sich die Aufmerksamkeit denn auch ganz auf Richard von Weizsäcker und die erwarteten Aussagen zur Rolle Deutschlands in Mittelosteuropa. Doch auch der Bundespräsident äußerte sie vorrangig zu Rußland und dessen Hegemoniebestrebungen: In der Region dürfe keine „neue Interessenzone“ für diese Großmacht entstehen. „Es bleibt deutsches Interesse, daß Ihre Länder in die Europäische Union eintreten.“ Havel seinerseits würdigte Weizäckers Rolle für Europa und Deutschland: Die Worte des Präsidenten hätten stets „großes Gewicht“; zur Zeit der Wiedervereinigung, als viele Angst vor einem vergrößerten Deutschland gehabt hätten, habe er Vertrauen für das neue Deutschland gewonnen.

Sichtlich schwer taten sich die Präsidenten bei der Definition des Begriffs „Mitteleuropa“. Leichter fiel es ihnen, über die EU zu reden. Der Schritt in die Union „ist nur durch Aufgabe der nationalen Identität möglich“, sagte Ungarns Präsident Apard Göncz. Doch der Versuch, mit dieser Äußerung gleichzeitig die Diskriminierung der ungarischen Minderheit in der Slowakei auf den Tisch zu bringen, gelang nicht. Genauso wenig wie die Bemühungen des Österreichers Thomas Klestil, mit Václav Havel über das umstrittene tschechische Atomkraftwerk Temelin zu sprechen. „Bilaterale Gespräche“, das hatte der Dichterpräsident versprochen, „wird es in Litomyšl nicht geben“.

Und so wurde dann auch das deutsch-tschechische Verhältnis erst auf Nachfrage eines deutschen Journalisten zum Thema. Richard von Weizsäckers diplomatische Antwort: „Noch immer entwickeln sich Kräfte aus den Ereignissen der Geschichte. Thema der Diskussion darf jedoch nicht die Veränderung der Besitzverhältnisse sein. Das Entscheidende ist die moralische und historische Bewertung dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist.“ Tomas Niederberghaus