■ Zwangsheirat und Minirock
: Die Ehre retten auf Leben und Tod

Ihre Eltern haben die 19jährige Türkin Esine, die in Deutschland aufwuchs, in der Türkei verheiratet. Noch bevor der Bräutigam nach Deutschland nachzog, wurde sie in ihrer neuen Wohnung von ihrem Vater getötet, weil sie einen männlichen Bekannten in ihrer Wohnung empfing. Auch der Besucher wurde Opfer der Bluttat. Das Verheiraten der Tochter und die Bluttat haben ihre Wurzeln im gleichen kulturellen Durcheinander, hängen aber nicht kausal zusammen, auch wenn der oberflächliche Beobachter diesen Eindruck gewinnt.

Wenn es um die Heirat geht, haben die Eltern in der Türkei ein gewichtiges Wort mitzureden, was allerdings nur in seltenen Fällen an eine Zwangsehe grenzt. In der Regel nennen die Jugendlichen ihre Wunschpartner, und die Eltern versuchen dem zu entsprechen, wenn nichts Gravierendes entgegensteht. Auf diese Weise kommt die Eheerfahrung der Eltern den Kindern auch zugute, und die wichtigen Voraussetzungen des späteren Glücks, wie zum Beispiel die Finanzen, gehen in der jugendlichen Liebelei nicht unter. Erfahrungsgemäß sind diese Ehen tragfähiger als die Liebesehen, und „das böse Erwachen“ nach einem kurzen Liebesglück kommt hier seltener vor.

Dieses Modell erfordert bestimmte Randbedingungen, wie zum Beispiel eine Mindestbevölkerungsdichte. Kinder und Eltern müssen über einen längeren Zeitraum mit potentiellen Partnern in Kontakt sein, damit sich eine annehmbare Auswahl ergibt. Dies ist für Türken in Deutschland nicht gegeben. Zum Beispiel haben Jugendliche in der Türkei mehrere Dutzend Mitschüler und Nachbarn, unter denen ihre späteren Ehepartner sind. In Deutschland dagegen sind nur ein paar türkische Altersgenossen in Sicht. Von der einheimischen Mehrheit werden sie ja ausgegrenzt, so daß die Mischehen Ausnahmen darstellen. Also greifen die Eltern auf das Kandidatenpotential in der Türkei zurück. Der Gedanke, mit jemandem verheiratet zu werden, den sie noch nicht kennen, schreckt die Jugendlichen verständlicherweise ab.

Die Zeit, die ihnen und den Eltern im Heiratsurlaub bleibt, ist auch zu kurz, eine vernünftige Auswahl zu treffen. Diese Ehen enden oft schneller und unglücklicher als die Liebesehen, weil die Ehepartner in verschiedenen Kulturkreisen aufgewachsen sind und unterschiedliche Werteskalen, Denkstrukturen und Verhaltensmuster haben. Die Bluttat ist von dieser Eheproblematik unabhängig zu sehen. Im genannten Fall wie, in vielen anderen Fällen auch, war es schließlich nicht der zugezogene Ehemann, sondern der hier lebende eigene Vater, der getötet hat.

Die türkische Gesellschaft verlangt von den Eltern, dafür zu sorgen, daß ihre Töchter die sexuelle Lust ausschließlich in der Ehe suchen. Sonst verlieren die Eltern an Achtung. Dieses Verteidigen der „Familienehre“ ist eine rituelle Handlung, die nur selten tödliche Folgen hat. Sie funktioniert folgendermaßen: Der „Retter der Ehre“ vergewissert sich erst, daß genügend Tröster und Schlichter da sind. Dann brüllt er sein schreckliches Vorhaben heraus und macht Anstalten, handgreiflich zu werden, läßt sich aber alsbald besänftigen und zurückhalten. Damit ist der gesellschaftlichen Anerkennung genüge getan. Wenn der Vater aber nach Deutschland kam, ohne die rituellen Stoppmechanismen zu kennen, und wenn sich keine Tröster und Schlichter in der Umgebung befinden, passieren plötzlich Dinge, die von der Gesellschaft eigentlich nicht verlangt und vom Täter eigentlich so nicht beabsichtigt worden sind – im Extremfall ein Mord.

Eine Kultur braucht entsprechende quantitative und qualitative Randbedingungen, um sich als tragfähig zu erweisen. Für die anatolische Kultur fehlen in Deutschland manche dieser Bedingungen.

Foto: Umbruch Bildarchiv

Ein Überwechseln in die deutsche Kultur scheitert nicht zuletzt daran, daß die deutsche Gesellschaft keine Mitglieder aufnimmt, die nicht christlich sind und nicht „nordisch“ aussehen.

Esine und ihre Eltern sind Opfer kultureller Lücken geworden. Sie haben von den Kulturen in Deutschland und in der Türkei viele Bruchstücke übernommen, die sich nicht zu einer kompletten Kultur ergänzen. Es ist zu erwarten, daß sich noch tragfähigere Randkulturen entwickeln. Einzelne menschliche Tragödien können dennoch nie ausgeschlossen werden. Dr. M.Y. Dedegil