Tiefe Schnitte in der Rasier- klingenfabrik

taz-Serie (Teil 3): Neue Arbeitszeit- modelle – Abschied von der Fünf- tagewoche / Sechstagewoche bei Gillette bringt Arbeitszeitverkürzung und Neueinstellung / Beim Milchtüten- hersteller Tetra-Pak laufen Maschinen auch sonntags  ■  Von Hannes Koch

Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit und die freien Wochenenden sind auslaufende Modelle. Einige Unternehmen arbeiten bereits am Samstag und Sonntag – um die Maschinen besser auszulasten und auch weiterhin konkurrenzfähiger zu sein.

Dieser Flexibilisierung steht die Gewerkschaftsforderung nach Verkürzung der Arbeitszeit gegenüber. Absicht und Hoffnung: Existierende Arbeitsplätze werden gesichert und neue geschaffen. In der Praxis gehen beide Strategien meist eine enge Verbindung ein.

Wem die neuen Arbeitszeitmodelle dienen und wie sie in der Praxis funktionieren, hat die taz jetzt am Beispiel von Berliner Betrieben und Verwaltungen untersucht.

„Für das Beste im Mann“ tut Gillette wirklich alles. „Hier werden die Rasierklingen mit Speziallasern geschweißt – präziser als optische Gläser“, schwärmt die Public-Relations-Abteilung der Firma, wenn es um „das Spitzenprodukt Sensor“ geht, den genialen Naßrasierer aus Tempelhof.

20 Patente für technische Neuerungen habe der im US-amerikanischen Boston ansässige Gillette- Konzern angemeldet, als mit dem Einsatz von mehreren hundert Millionen Mark das Produktionsverfahren für die Sensor-Klinge entwickelt wurde. Die gigantischen Entwicklungskosten für einen Wegwerfartikel nahm das multinationale Unternehmen Ende der achtziger Jahre zum Anlaß, dem Berliner Werk in Tempelhof die Pistole auf die Brust zu setzen. Die Konzernleitung in Boston verlangte, den arbeitsfreien Samstag abzuschaffen und die Sechstagewoche einzuführen.

Die Produktionszeiten innerhalb der in Deutschland üblichen Fünftagewoche würden nicht mehr ausreichen, die Investitionen zu erwirtschaften und Gewinn zu machen, meinten die amerikanischen Manager. Ihre Drohung: Beharre das Berliner Gillette-Werk auf der fünftägigen Arbeitszeit, würden die Rasierapparate woanders hergestellt. Das weltumspannende Gillette-Imperium hat 60 Fabriken in 28 Ländern zur Auswahl. Die Alternative für Berlin: Investitionen von 190 Millionen Mark, Produktion von einer Milliarden Klingen jährlich – neue Arbeitsplätze – oder langsames Sterben des Standortes.

Die Wogen schlugen hoch, der Tempelhofer Betriebsrat wollte auf den arbeitsfreien Samstag keinesfalls verzichten, mußte angesichts der marktwirtschaftlichen Machtverhältnisse schließlich aber klein beigeben. „Man kann als Erpressung bezeichnen, was da passiert ist“, bemerkt rückblickend ein Gewerkschafter, der seinen Namen nicht nennen will.

Scharfe Klingen – tiefe Schnitte: Für 400 von insgesamt 900 ArbeiterInnen der Produktion wurde 1989 die Sechstagewoche eingeführt. Gearbeitet wird seitdem in unregelmäßigem Rhythmus. Mal folgen zwei Arbeitstage aufeinander, mal sind es drei oder vier. Dazwischen liegen Freizeitblöcke, die zwischen einem und drei Tagen dauern. Die Freizeit findet jede Woche an anderen Tagen statt. Das macht die Planung der arbeitsfreien Zeit mit Familie und FreundInnen nicht gerade leicht. Feste Termine im Sportverein einzuhalten, ist illusorisch. Jedem Beschäftigten ist nur ein komplett freies Wochenende pro Monat garantiert.

Bis heute ist die Diskussion über die Verlängerung der Maschinenlaufzeit und die Flexibilisierung der Arbeitszeit bei Gillette nicht verstummt. „Die Spätschicht am Samstag ist der Belegschaft ein Dorn im Auge“, sagt der Gewerkschafter, der anonym bleiben will. Es sei unzumutbar, daß einige ArbeiterInnen durch das späte Schichtende um 23 Uhr und ihren langen Heimweg erst am frühen Sonntagmorgen zu Hause seien. Aber Versuche des Betriebsrates, die Samstags-Spätschicht zu verkürzen, sind bislang gescheitert. Ein weiterer Streitpunkt: In Einzelfällen müssen ArbeiterInnen an sechs aufeinanderfolgenden Tagen arbeiten.

Doch die Flexibilisierung der Arbeitszeit bringt auch Vorteile für die Beschäftigten. In den Verhandlungen mit der Unternehmensleitung konnte der Betriebsrat Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich durchsetzen. 36 Stunden werden bezahlt, während die durchschnittliche Wochenarbeitzeit nur etwa 33 Stunden beträgt. Hintergrund dieser Einigung: Der Schichtenplan für die Sechstagewoche weist pro Monat zwei Freischichten mehr aus als bei der Fünftagewoche üblich.

Außerdem wurde die Zahl der Arbeitsplätze bei Gillette in Tempelhof nicht nur gesichert, sondern aufgestockt. Um die zusätzlichen Samstagsschichten zu fahren, wurden mit Beginn des Sechstagemodells 130 Beschäftigte zusätzlich eingestellt.

Auch beim Milchtüten- und Verpackungs-Hersteller Tetra- Pak in Heiligensee brachte die Flexibilisierung neue Arbeitsplätze. Und das in erheblichem Umfang: Mit 80 Neueinstellungen wurde die Gesamtbelegschaft um ein Drittel vergrößert. Der starke Zuwachs bei der Belegschaft findet seine Erklärung in der extremen Form der Flexibilisierung der Arbeitszeit, die bei Tetra-Pak praktiziert wird. Die Produktion von Milchtüten und Saftkartons läuft an sieben Tagen pro Woche, Monat für Monat rund um die Uhr. Die arbeitsfreien Samstage und Sonntage sind abgeschafft. Ein Teil der Belegschaft arbeitet ausschließlich am Wochenende.

Dann malochen die ArbeiterInnen, was das Zeug hält. Die Schichten dauern zwischen acht und elf Stunden, die Pause zwischen zwei Arbeitsintervallen beträgt mitunter ebenfalls nur elf Stunden. Ein Beispiel: Die Nachtschicht endet Sonntag morgen um 9 Uhr – um 20 Uhr muß derselbe Arbeiter schon zur nächsten Nachtschicht antreten. So reißen die Beschäftigten durchschnittlich 29 Stunden an drei Tagen ab und bleiben dafür den Rest der Woche zu Hause.

Als Ausgleich für den Dauerstreß am Wochenende gewährt auch Tetra-Pak Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich. Obwohl nur 29 Stunden geleistet werden, bezahlt der Betrieb den Tariflohn für 37 Stunden. Sonntags- und Nachtzuschläge sind dafür verantwortlich, daß die Wochenendschichten bis zu 1.000 pro Kopf mehr verdienen als die KollegInnen der normalen Fünftagewoche.

Im großen und ganzen steht der Betriebsrat des Unternehmens deshalb hinter der bei Tetra-Pak vereinbarten Arbeitszeitregelung. „Von außen sieht unser Modell zwar schlecht aus“, räumt der Betriebsratsvorsitzende Heinz Riesenbeck gegenüber der taz ein, „aber unsere Leute sind zufrieden damit“.

Die Serie wird kommenden Samstag fortgesetzt.

Teil 1 siehe taz vom 25. März, Teil 2 taz vom 5. April '94.