Konspiration mit der Finsternis

■ IrreFührungen eines türkisch-deutschen Essayisten an den Rand Europas

„Die Türken“, so schrieb Rudolf Augstein vor einigen Monaten, „gehören einem Kulturkreis an, der mit dem unsern vor und nach Prinz Eugen nichts gemein hat. Hier kann es nur eine Entscheidung geben. Entweder sie wollen Deutsche werden, mit allen Rechten und Pflichten, oder Türken bleiben, was ihnen ja freisteht.“ Der Satz, mit dem sich der Spiegel-Herausgeber gegen die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft wehrte, ist in mehrfacher Hinsicht beachtenswert. Erstens: Der österreichische Feldherr Prinz Eugen, so darf man wohl mutmaßen, wird hier hervorgehoben, weil er das Abendland vor dem Ansturm der Türken rettete, und nicht etwa, weil er im Jahre 1697 das schon damals multikulturelle Sarajevo brandschatzte, wobei 94 Moscheen und auch sämtliche Kirchen den Flammen zum Opfer fielen. Zweitens: Die Gemeinsamkeiten der islamischen und der christlichen Kultur – angefangen bei Monotheismus und Apotheose als religiösem Substrat – werden schlicht geleugnet. Drittens: Daß eine Person sich zwei Kulturkreisen zuordnet, ist unerwünscht. Entweder oder.

„Wenn die Türkei ein Teil der Europäischen Gemeinschaft werden will“, schrieb Theo Sommer vor zwei Jahren als Chefredakteur der Zeit, „muß sie abstreifen, was noch an Asiatischem an ihr haftet.“ Igittigitt, bitte abkratzen, was da noch von Tamerlans mongolischen Horden kleben geblieben sein könnte. Was das Asiatische denn ist, verrät uns der Mann nicht. Vielleicht Folter und Diktatur, Bestechlichkeit und Beamtenwillkür? Aber waren die Nazis, die französischen Soldaten in Algerien, die italienischen Politiker der Tangentopoli Asiaten? Wie dem auch sei, auch hier: entweder oder. Asien oder Europa. Orient oder Okzident.

Den beiden Publizisten gemeinsam ist das Bedürfnis nach Abgrenzung und Ausgrenzung sowie die diffuse Angst vor der Vermischung, letztlich vor den Bastarden. Als ob nicht jede Kultur in der Auseinandersetzung mit andern Kulturen entstünde und sich mit der Reibung an diesen selbst veränderte.

Schon in seinem 1992 erschienen „Atlas des tropischen Deutschland“ hat Zafer Șenocak die Frage der Veränderung und Vermischung von Kulturen diskutiert. In seinem neuen unter dem Titel „War Hitler Araber?“ soeben erschienenen Sammelband präsentiert uns der deutsch-türkische Lyriker und Essayist nun eine Fortsetzung in größerem Rahmen. „IrreFührungen an den Rand Europas“, verspricht der Untertitel. Der Rand ist dort, wo es unscharf wird, wo die Farben auslaufen, wo das Matte, Trübe, Verschmutzte, Unreine ist. „An den Rändern“, so Șenocak, „findet die Konspiration mit der Finsternis statt, hier sind Reinheitsgebote und Ursprünglichkeit aufgehoben.“ Hier verschwindet auch die Angst vor dem anderen, vor dem Fremden. Wer sich vom Autor zu diesem Rand (irre)führen läßt, kann sich dort nicht mehr „an seinen Schuhspitzen“ orientieren, sondern nur noch „am Horizont, dort, wo dieser sich mit dem Horizont des Anderen verschmelzen kann.“

Längst ist der Orient mitten unter uns, in Kreuzberg, St. Pauli und Westend, längst ist der Okzident auch im hintersten Kurdistan. Und so geht es bei den Reisen zwischen den zwei Welten, die letztlich eben doch nur zwei Seiten einer Welt sind, darum, das Eigene im anderen und das andere im Eigenen zu erforschen, Verdrängtes freizulegen. Und was wird schneller verdrängt als sexuelle Wünsche? Ist es denn verwunderlich, wenn der Westeuropäer im märchenvontausendundeinernachtumwobenen Orient einen Garten der geheimen Lüste wittert? Oder wenn der Türke die westdeutsche Großstadt als verdorbenen Sündenpfuhl entfesselter Erotik ansieht?

Orient und Okzident. Sie werden heute oft als Gegensätze dargestellt. Hier die Ratio, die Effizienz, die Aufklärung, dort die Sinnlichkeit, die Trägheit, der Fundamentalismus. Als ob es Inquisition und Kreuzzüge nicht gegeben hätte. Als ob andererseits das Osmanische Reich nie die Toleranz aufgebracht hätte, die vom christlichen Spanien vertriebenen Juden aufzunehmen. Na ja, alles Vergangenheit, mag man einwenden. Doch gibt es gerade heute nicht auch einen modernen christlichen Fundamentalismus? Und gibt es nicht auch – etwa auf dem Balkan – einen toleranten, weitgehend säkularisierten Islam?

Sicher, Okzident und Orient unterscheiden sich sehr. Die Unterschiede, ja die diametralen Gegensätze wurden immer wieder betont. Doch das Gemeinsame wird gerne unterschlagen, letztlich, um sich die eigene Reinheit zu bewahren. Es ist die Angst vor der Melange. Doch längst sind die Grenzen verschwommen. Die größte Stadt Europas, Istanbul, hat einen islamistischen Bürgermeister. Istanbul ist andererseits auch die größte Stadt eines Landes, das die Trennung von Staat und Religion radikaler durchgesetzt hat als das christliche Deutschland. Der Islam wird heute schnell auf seine fundamentalistische Variante reduziert, und dem judäochristlich geprägten Abendland attestiert man heute allzu sorglos Weltoffenheit und Toleranz. Doch ein Blick nach Bosnien genügt. Orthodoxe Popen segnen serbische Milizionäre, die Moscheen schleifen. Bosnische Muslime versuchen verzweifelt, an einem multikulturellen Konzept ihres Staates festzuhalten.

All dies müßte unser Weltbild in Frage stellen. Doch die Klischees sind eben oft stärker. Zafer Șenocak hilft uns, die toten Winkel in der Betrachtung des anderen offenzulegen, den blinden Fleck im eigenen Auge wahrzunehmen. Das ist die wichtigste Voraussetzung, um den Titel seines Sammelbandes zu verstehen: „War Hitler Araber?“ Thomas Schmid

Zafer Șenocak: „War Hitler Araber?“, Babel-Verlag, Berlin 1994, 96 Seiten, 22 DM