Wo ist meine Bezugsposse?

Der „Posse Effect“ ist los: Gang-Filme, HipHop und sehr viel Jugendkultur – XY ungelöst 94?  ■ Von Andreas Becker

Jugend hat Kultur in Berlin. Die X-94-Macher senden ihre Butoh- Tänzer, Graffiti-Sprayer, Airbrush-T-Shirt-Workshopper bis in die letzten Winkel unsrer gemütlichen Gernegroßstadt. Aber was wollen sie uns sagen mit ihrem Programm, das wie aus diversen Trendmagazinen zusammengepuzzelt wirkt. Daß wir alte Säcke sind, die wir in unserer Zweizimmerwohnung vor uns hinschimmeln, und draußen, auf der „street 94“ geht volle Kanne die virtuelle Realität ab? „X-Pression & Fashion“ gab's schon zur Eröffnung, die BVG führte kurz zuvor X- preß-Busse ein (mit Nr. X26), und im Gropius-Bau wird für 1997 eine ganz andere X-pressionismus- Retro vorbereitet. „Keck und lehrreich, verwegen und spaßig“, findet Rockopa Walter Jens die Show.

Merkwürdig nur, daß diese Spielwiese so dermaßen harmlos wirkt. Statt „we bite“ ein großes „Bitte, bitte“. Kein politischer Angriff durch Kunst, statt dessen Gewinsel um Akzeptanz. Die Illegalität als Produktionsbedingung von Graffitis als Poser-Attitüde, Text als Phrase: „Pornithologie ist keine Politologie. Aber auch keine RelaXtase, eher Fuckoult.“ (Qurt Leimer im X-94-Katalog).

Da muß Kreuzberg gegenhalten. Als Quasi-Gegenveranstaltung, irgendwie aber auch integriert in X 94, gibt's im Bethanien die Ausstellung „Street 94. The Posse Effect“. Gern gibt man sich in Kreuzberg kämpferisch, handelt aber defensiv: „To Stay Here is my Right“. Auch hier fast der gleiche Eindruck wie in der Akademie: Graffitis beflügeln, sieht man sie auf einem IC nach Mailand rollen, in einer Ausstellung sind sie mausetot. Verschärfend kommt hinzu, daß ein Spraybild wie „Cats never die“ von Dee Joee in der freien Wildbahn keine Chance hätte: Die Schrift kann jeder entziffern. Der Verstoß gegen das Gebot, die Peer-group oder neuerdings Posse (was der Langenscheidt übrigens mit „Polizeiaufgebot“ übersetzt) durch Unlesbarkeit ihrer Codes vor der doofen Außenwelt zu schützen, würde einfach übersprayt. Man mag es kaum noch wiederholen: Graffitis leben von ihrer Kurzlebigkeit.

Gelungener dagegen die Arbeiten, die sich auf einem höheren Abstraktionslevel an das annähern, was die Ausstellung eigentlich nicht sein will: Kunst. Die Schuhschlingen von Radka Hladka etwa. Auch die Väter der Posse, Gio di Sera und Neco Devinci, verstehen sich als Künstler. So machen sich Gio di Seras Recycling-Objekte ganz gut auf Postkarten der Galerie Loulou Lasard. Und auch „in echt“ erreichen die zu Hochhäusern aufgetürmten Lautsprechergitter und Autocassettenrecorder einen gewissen Effekt. Als Hintergrund muß trotzdem wenigstens ein Stadtplan von South Central L.A., Harlem oder eben Berlin herhalten. Auch mit einem ernst dreinblickenden Malcolm X kann man sich noch identifizieren. War der nicht Moslem und schwarz und unheimlich lange im Knast? Deutsch-türkische Rapgruppen heißen dann schon mal „Islamic Force“. Das alles aber hat weniger zu tun mit Schnellgerichten im Iran als mit einer verqueren Identifikation mit US-amerikanischen Gettokids. Womit wir bei der gestern begonnen Filmreihe „The Posse Effect in Motion“ im Eiszeit wären. Während das offizielle X-Programm mit Filmen wie „Help!“, „Easy Rider“, der „Rocky Horror Picture Show“, „Diva“ und (immerhin) „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ „40 Jahre Jugend-Kult-Filme“ abspult, widmet sich das Eiszeit noch bis Ende April dem „Gang-Film“. Und der kommt seit einiger Zeit vor allem hiphoppend aus den USA daher.

Welch verheerende Folgen die Rezeption von Filmen wie Dennis Hoppers „Colors“ haben kann, demonstriert noch bis morgen der Wiener Egon Humer (unlängst bei der Berlinale mit „The Bands“ vertreten) unter dem vielversprechenden Titel „Running Wild“. Der Film, 1992 gedreht mit Unterstützung des Wiener Erziehungsministeriums, versteht sich als Portrait der Streetgangs von Wien. „Was ist euer Vorbild? Colors!“

Die „Beastie Boys“ (wie zufällig nach dem weißen HipHop-Act benannt) sind drei Jungs, die uns angry pubertierend durch ihr früheres Viertel führen, aus dem sie aber verschwinden mußten, weil eine Fascho-Gang – das sind in Wien wieder mal die dummen Fußballfans, die „Hools“ – ihr Haus mit Nazi-Parolen beschriftet hat. Die drei Beasties laufen in einem Outfit rum wie aus dem Otto- Katalog für Streetkids: dreimal die gleiche Baseballkappe, einer im Karohemd, einer in Guerilla-Jacke und einer spielt für die Dodgers. Die Jungs zeigen uns mit cool abgespreizten Fingern ihren Spielplatz, wo sie schon als Kinder im Sand buddelten, später rumhingen. Heute würden die Kinder sie nachahmen, „daboi wissen die gar neht, wos dohinder steckt“.

Die Beasties leiern es uns noch einmal vor: Wir müßen uns verteidigen, wir wollen keine Gewalt – aber die anderen, unsere Gegner, die Hools. Kickboxen ist zwar ein Kampfsport, ich wende es aber nur an, wenn der andere sein Messer zieht. Wenn die Beasties zum Fußball gehen, maskieren sie sich vorher. Oder waren das jetzt die porträtierten Neonazis, die sich natürlich nicht als solche verstehen: „Mir san nur gegen Ausländer“.

Da trifft es sich gut, daß die drei Beasties sich im Laufe dieses sich zäh dahinschleppenden „Gang- Films“ als Ex-Jugoslawen herausstellen. Das hätten wir allerdings nicht gedacht, wo sie doch so perfekt Schmäh reden. Die Gewalt, die der Film in Wien nur als Vokalbrutalität sich aufplusternder Jungmänner unter Aussparung der großen Hauereien einfängt, muß Humer scheinbar notgedrungen per Video aus dem Bürgerkrieg von nebenan beziehen: Ein Schwein frißt einen Toten.

Und so dürfen sich auch die Beasties, obwohl sie wahrscheinlich in Wien geboren sind (über Herkunft und sozialen Background erfahren wir in „Running Wild“ gar nichts, Humer fragt einfach nicht danach), als Marginalisierte fühlen. Wo doch die Vorbilder in den amerikanischen „Gettos“ so weit weg sind. In Wien aber hat man es ständig mit den Bullen zu tun, die patrouillieren durch die Fußgängerzone und machen einem ganz schön Angst mit ihren Blaulichtern. Wie leicht man in Wien auf die schiefe Bahn gerät, erfahren wir, als sich die Beasties illegal auf einem Basketballplatz versammeln, um endlich den Reiz des Verbotenen genießen zu können. Einer steht dabei vor dem Zaun Schmiere und flüstert uns zu, daß die aus ihren Fenstern gaffenden Nachbarn sicher gleich die Polizei rufen werden. So schnell wird man kriminell in Wien, und man darf sich fühlen wie in Harlem. Jetzt müßen sie nur noch rappen lernen, das klingt auf Wienerisch nicht so richtig gettomäßig.

Posse in Motion: Running Wild, Boyz'n The Hood, Menace II Society, Warriors, Colors, Beat Street, Wild Style u.a. Filme im Eiszeit, täglich 19 Uhr