"Die Bahn war bisher ein Wohlfahrtsverein"

■ Zum Anfang des Jahres mutierten die Staatsbahnen zum Wirtschaftsunternehmen Deutsche Bahn AG und wurden von ihren Altschulden befreit. Was das für den neuen Konzern, die 350.000 Beschäftigte ...

taz : In der Schweiz haben die Menschen für die Bahn und gegen die Lkw-Flut gestimmt. Was heißt das für die Deutsche Bahn?

Heinz Dürr: Das bedeutet Zuwachs im Güterverkehr. Und es zeigt, daß die Interessen der Bürger besser berücksichtigt werden müssen, als es bisher der Fall ist. Bahnfahren entspricht dem Zeitgeist. Aber die Bahn muß das, was man von ihr erwartet, auch bringen – und da tut sie sich noch ein bißchen schwer.

Welches Güterverkehrskonzept verfolgen Sie? Wollen Sie weiter alles selbst machen und damit in Konkurrenz zu den Speditionen gehen, die ja jetzt auch auf die Gleise dürfen?

Der Vorstand hat eine klare strategische Entscheidung getroffen. Wir werden uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren, nämlich den Transport auf der Schiene. Wir wollen nicht mit Spediteuren in Konkurrenz treten. Es muß ein Nabe-Speiche- System aufgebaut werden und auch technisch viel getan werden. Wir rangieren noch zuviel. Das dauert zu lange und ist zu teuer.

Haben diese Entscheidungen schon Konsequenzen gehabt? Im Grunde können Sie doch das gesamte Rangierpersonal entlassen.

Das ganze nicht. Wir werden weiterhin auch einen Einzelwagenverkehr betreiben. Aber wir haben etwa fünfzig Prozent zuviel Rangierkapazität. Und dann kann man ja mit diesem Gelände was andres machen.

Als Immobilien verkaufen?

Zum Beispiel. Aber man kann dort auch Umschlagbahnhöfe aufbauen. Es geht immer darum, daß wir mit dem Zug schneller werden müssen. Wir bauen gerade mit Krupp eine automatische Umschlaganlage als Pilotanlage: Der Spediteur bringt den elektronisch gekennzeichneten Container. Der kommt ins Hochregallager. Dann wird er automatisch vom Rechner auf den vorbeifahrenden Linienzug gesetzt, sobald der vorbeikommt. Am Ankunftsort wird er dann wieder elektronisch ins Hochregal gestellt und vom Spediteur abgeholt. Das ist unsere Vision.

Ihr Konzept Bahntrans 2000 aus dem letzten Jahr widerspricht dem aber deutlich. Damals haben Sie vor allem Investitionen zur Steigerung des bislang unlukrativen Stückgutverkehrs geplant.

Das Konzept Bahntrans 2000 haben wir etwas modifiziert, aber es ist häufig auch falsch verstanden worden. Wir werden jetzt ganz klar trennen zwischen dem Speditionsteil, den wir mit Dritten zusammen machen werden, und dem eigentlichen Schienenteil.

Seit Anfang des Jahres dürfen auch Konkurrenten auf der Schiene fahren. Wann gibt es da klare Preistabellen, und wer vergibt die Konzessionen?

Konzessionen vergibt die Deutsche Bahn AG nicht. Aber sie wird Trassen vermieten. Wir müssen 40.000 Kilometer bepreisen – und es gibt unterschiedliche Tarife für ganze Züge und kleine Triebwagen, für Hochgeschwindigkeits- und Nebenstrecken. Wir werden zum 1. Juli den kompletten Katalog herausgeben.

Uns ist das ganze Konstrukt etwas suspekt. Schließlich entscheiden Sie, wann und zu welchem Preis ein Konkurrent fahren darf. Wenn Ihnen ein Wettbewerber zu stark wird, können Sie ein bißchen an der Preisschraube drehen.

Das unterstellen uns immer die Leute, die sich so verhalten würden, wenn sie in unserer Position wären.

Ein Wirtschaftsunternehmen, das Sie jetzt ja sein wollen, ist ja kein Wohlfahrtsverein.

Nein, das war die Bahn bisher. Aber es wird eine Transparenz herzustellen sein über die Preise. Das ist schon deshalb nötig, weil der Fahrweg sehr stark vom Steuerzahler finanziert wird. Und der will natürlich wissen: Wird damit nur der Transportbereich der Bahn bezahlt, oder geht es darum, dem Schienenverkehr eine Chance zu geben?

Aber Sie als Bahn AG können ja auch sagen, wir wollen mehr Verkehr auf die Schiene – aber eben unseren Verkehr.

Es gibt doch gar nicht das Problem, daß eine zweite ICE-AG auf die Strecke kommt. Das ist eine so gewaltige Investition, da brauchen Sie ja nicht nur den Zug und die Lok, sondern auch Ersatzfahrzeuge, Instandhaltung, kundige Leute und so weiter. Das viel Interessantere ist der Güterverkehr und der Nahverkehr in der Fläche, wo Strecken nicht ausgelastet sind. Da kann es sein, daß andere viel billiger fahren können, weil sie einen viel kleineren Stab haben als wir und den Fahrplan genau mit den Bussen koordinieren.

Sie gehen davon aus, daß es auf den lukrativen Schnellstrecken gar keine Konkurrenten gibt?

Doch, im Nahverkehr werden die Länder uns sofort Konkurrenz vorsetzen. Da muß die Bahn sich sehr schnell was einfallen lassen. Die Länder werden die Strecken ausschreiben. Die eigentliche Revolution bei der Bahnreform ist die Trennung zwischen Infrastruktur und Transport. Die Fahrwege-AG ist schon ein großer Laden, der muß sein Geschäft mit den Bahntrassen machen. Da wird es natürlich in der Deutschen Bahn AG interne Reibungspunkte geben, weil der Fahrwegbereich andere Interessen hat als der Transportbereich.

Sind denn die Preise für jeden Streckenbenutzer gleich?

Ja. Bis auf die Mengenstaffel: Wenn einer nur einmal auf der Hauptstrecke zwischen Frankfurt und Köln fährt, dann zahlt er natürlich mehr als einer, der die Strecke ständig benutzt.

Aber sehen Sie denn nicht auch, daß die Schnellzüge den Nahverkehr verdrängen werden, einfach aus finanziellen Gründen?

Nein, da gibt es vielleicht den einen oder anderen Fall. Da muß einfach dafür gesorgt werden, daß die S-Bahn eigene Gleise kriegt. Es kann nicht sein, daß auf ein und derselben Strecke ein brandneuer ICE und die S-Bahn mit ihren alten Waggons fährt, das geht nicht. Die Fernbahnsteige müssen ganz anders aussehen als die Nahverkehrssteige. Da müssen zum Beispiel wieder die Fahrkarten am Zugang zum Bahnsteig kontrolliert werden. Man muß schon ein wenig kreativ sein, um aus der Bahn was zu machen, nicht immer nur kritisieren.

Wird es differenzierte Fahrpreise geben?

Ja, wir werden ein relations- und zeitbezogenes Preissystem haben.

Warum wollen Sie sich eigentlich am Transrapid beteiligen?

Um den Verkehr zwischen Berlin und Hamburg zu bewältigen, ist der Transrapid nicht erforderlich. Die Entscheidung für den Transrapid ist eine politische, und wenn die Bundesregierung etwas für die Zukunftstechnologie tut, wird sich die Bahn daran beteiligen – weil die Industrie darin überhaupt keine Erfahrung hat. Deshalb werden wir uns um das Betreiben der Magnetbahn bemühen und sie in unseren Fahrplan einbinden.

Aber sie züchten doch damit ihre eigene Konkurrenz.

Nein, sie verdrängen uns auf der Strecke Berlin–Hamburg. Aber das gehört zu unserem Geschäft. Wir chartern den Zug oder betreiben ihn oder sind an der Betreibergesellschaft beteiligt. Der Kunde wird den Transrapid auf dem Plan finden, so wie er dort jetzt den ICE sieht. Das kostet dann natürlich ein paar Mark mehr, aber dafür fährt man auch schneller. Den Verkehrsausfall bei der Bahn wird man nach einer gewissen Zeit quantifizieren können. Dann wird man Konzepte entwickeln, um das zu minimieren.

Finanziert wird der Transrapid doch letztlich vom Bahn-Hauptaktionär Bund. Oder wollen Sie über die Börse die Kapitalerhöhung machen?

Sie bringen mich auf einen guten Gedanken. Die Japaner haben sieben Jahre gebraucht, bis sie an die Börse gegangen sind. Vielleicht schaffen wir es schneller, weil wir einen Vorlauf haben und weil wir hier schwierigere Verkehrsverhältnisse haben. Dann könnte man auch sagen, die Bahn steigt da voll ein und holt eine Kapitalerhöhung. Warum nicht?

Was bedeutet die Bahnreform für den Nahverkehr? Was haben Sie anzubieten, damit die Kommunen künftig bei Ihnen Leistungen bestellen?

Da haben wir zur Zeit zu wenig anzubieten. Wir haben an vielen Stellen zu altes Material, heruntergewirtschaftete Kisten. Und die S-Bahnhöfe hier in Berlin zum Beispiel laden ja nicht gerade ein.

Viel störender finden wir, daß gerade in kleineren Städten so selten ein Zug kommt, daß man stundenlang am Bahnhof stehen muß.

Weil kaum einer damit fährt. Die Bahn ist in diesem Bereich in keinem guten Zustand, die Züge sind teilweise aus den dreißiger Jahren. In den nächsten fünf Jahren investieren wir 25 Milliarden – inklusive Fernverkehr. Im Nahverkehr geht es um die S-Bahn in Berlin; in Hamburg wird auch neu bestellt. Eine höhere Taktfrequenz wird in einigen Städten eingeführt. Schwieriger ist der Verkehr in die Fläche. Und ganz schwierig ist es in den neuen Bundesländern. Da fahren Züge durch die Gegend, in denen keiner drin sitzt.

Was passiert damit?

Die Gesamtstruktur des Nahverkehrs in den neuen Bundesländern wird ja gewaltig subventioniert. Es ist zugesagt vom Bund, daß es so zumindest weitergehen kann, aber man wird sich die einzelnen Strecken angucken. Wir müssen dafür sorgen, daß wir für die Fläche neue Fahrzeuge bekommen. Zum Beispiel Schienenbusse. Es gibt einen Zug, der heißt VT-628. Das ist ein dieselbetriebenes Fahrzeug für 120 Personen, fährt 120 Stundenkilometer, kostet drei Millionen Mark. Wenn ich zwei Busse kaufe, die auch auch 120 Leute fassen, kostet das 800.000 Mark. Wir brauchen also Fahrzeuge unter zwei Millionen Mark. Dann können wir es wieder rechtfertigen.

Aber die gibt es nicht?

Doch, die sind in Bau. Die Deutsche Waggonbau wird auf unsere Anregung hin so ein Fahrzeug auf der Messe vorstellen, zu dem Preis, den wir uns vorstellen. Das heißt aber, daß wir ein paar hundert Stück bestellen müssen, damit sich das für die Firma rechnet. Und die werden wir auch kaufen.

Sie haben am Anfang ihrer Bahnchef-Zeit gesagt, daß keine Strecken stillgelegt werden sollen. Bleiben Sie dabei?

Ich habe immer gesagt, unser größter Aktivposten sind unsere 40.000 Kilometer Streckennetz. Wir müssen unseren Geist darauf verwenden, was wir damit machen, und nicht darauf, die Strecken stillzulegen. Wenn eine Strecke in einem Gebiet liegt, wo kein Verkehrsaufkommen ist, dann ist es allerdings besser, mit dem Bus zu fahren – aus ökologischen wie auch aus ökonomischen Gründen. Und wir werden Strecken stillegen. Da gibt es keine Zweifel.

Wir könnten den Grundbesitz verkaufen und würden dann von den Finanzleuten noch hoch eingeschätzt, das wollen wir aber nicht. Wir haben eine strategische und eine politische Vision.

Wenn es zum Beispiel einen Interessenten für einen Bahnhof gibt, würden sie dem den Vorzug geben, der da weiter Schienenverkehr betreibt, und nicht dem, der einen guten Preis bietet?

So ist es.

Glauben Sie, daß die innere Bahnreform von Ihren Mitarbeitern, deren Zahl sich ja in nächster Zeit um ein Drittel verringern wird, mitgetragen wird?

Beharrungskräfte gibt es nicht nur bei der Bahn. Bei der Bahn ist es aber besonders schwierig, weil ihre Mitarbeiter vierzig Jahre lang einen anderen Status hatten. Im Westen sind die Leute alle abgesichert, viele Beamte. Ganz schwierige Frage, ob die im Osten motiviert sind. In der Mehrzahl, ja. Die Leute haben ja gemerkt, so kann es nicht weitergehen. Man hätte das alles auch anders machen können. Aber es ist ja eine politische Entscheidung gewesen, zu sagen, wir wollen die Bahn nicht betriebswirtschaftlich sanieren, also keine Schrumpfbahn machen, sondern wir wollen die Verkehrspolitik ändern. Das ist das, was wir schon seit zwanzig Jahren gefordert haben, das ist jetzt endlich gekommen.

Ihre Leute haben also am 1. Januar einen neuen Arbeitsvertrag bekommen. Das setzt ja voraus, daß Sie wissen, worauf der Laden hinausläuft. Gibt es ein fertiges Strukturkonzept in der Bahn?

Die Leute sind eins zu eins übernommen worden. Und die kriegen auch ihr Gehalt weitergezahlt wie bisher. Die Einstufungen in den neuen Tarifvertrag erfolgen jetzt. Wir haben den Tarifvertrag ja erst im Dezember abgeschlossen und müssen jetzt 350.000 Leute neu einstufen. Wir haben gesagt, bis zum September gibt es das gleiche Geld wie bisher. Die Arbeit hat sich natürlich manchmal verändert. Für viele ist sie aber auch gleich geblieben.

Um die neuen Strukturen zu füllen, brauchen sie neue Leute. Stellen Sie neu ein?

Das sind einige Spezialisten, die wir von außen brauchen. Wenn wir tausend oder zweitausend Leute von außen reinholen müssen, dann ist das viel. Aber mengenmäßig fällt es gar nicht ins Gewicht.

Wann, schätzen Sie, wird die Bahn in die schwarzen Zahlen kommen?

In diesem Jahr.

Wie das?

Wir tragen nicht mehr die Zinslast für die Altschulden der Behörde Bahn, die überhöhten Personalkosten für die Beamten bezahlt der Bund. Wenn da nicht ganz wilde Sachen passieren, machen wir 1994 keinen Verlust. Aber das ist nicht allein unser Verdienst. Der Bund gibt uns die Startchance, endlich eine schwarze Null zu erreichen. Aber das hält nicht lange, weil wir sofort wieder investieren, und dazu müssen wir uns auch verschulden. Allein in diesem Jahr nehmen wir 3,5 Milliarden Mark Kredite auf.

Das heißt, wenn in drei bis vier Jahren Zinsen für die jetzigen Investitionen fällig werden, sind Sie wieder in den roten Zahlen.

Nur wenn der Vorstand schläft. Dann wäre der Vorstand nicht geeignet.

Sind Sie auch beim Güterverkehr optimistisch? Der Umsatz ist dort drastisch zurückgegangen, und es gab Marktanteilsverluste gegenüber dem Lkw.

Wir haben im Güterverkehr etwas mehr verloren, dafür haben wir im Personenverkehr mehr Umsatz gemacht. Zum Teil liegt das an der Rezession. Wenn in einem Industriezweig 28 Prozent weniger produziert wird, dann transportieren wir auch 28 Prozent weniger.

Wann gibt es Bahnaktien? Erst nach der Sanierung?

Ja. Mit Einzelgesellschaften könnte man vielleicht vorher an die Börse gehen.

Gibt es da schon Pläne?

Selbst wenn wir welche hätten, würde ich das nicht sagen. Aber das kann sich jeder vorstellen. Es gibt Interesse an Teilen des Nahverkehrs, und es gibt jemanden, der an Teilen des Güterverkehrs Interesse hat.

Interview: Annette Jensen

und Donata Riedel