Bulette = Kampfbrötchen

■ Marie Lorbeers Berlin-Führer „Multikulturelles Berlin“

Was zuerst wie eine Schrift der Friede-Freude-Eierkuchen-Fraktion erscheint, entpuppt sich dann doch als informativer Berlin-Führer. Schließlich wurde das „multikulturelle Berlin“ in solch kompakter Form noch nie so ausführlich vorgestellt wie in dem von Marie Lorbeer bei ElefantenPress herausgegebenen Bändchen.

Das handliche, gut lesbare Buch stellt zahlreiche Einwanderer vor, die im Laufe der Geschichte den Weg in diese Stadt fanden. Zunächst erfolgt ein historischer Abriß. Berlin ist seit Jahrhunderten eine Einwanderungsstadt, nicht erst seit den fünfziger, sechziger Jahren. Eine Anekdote für rigide „Das Boot ist voll“-Vertreter: 1685 soll Kurfürst Friedrich Wilhelm französische Hugenotten deswegen angeworben haben, weil er sich von diesen eine Vorbildfunktion für seine Untertanen erhoffte.

Eingestreute Porträts, meist von Künstlern und Intellektuellen, lockern die zahlreichen knapp formulierten Kapitel auf. Neben Statistiken, wie viele Immigranten in Berlin leben und woher sie stammen (sehr detailliert: zwei kommen von den Komoren, einer aus Bhutan), kann man sich über amüsante Einflüsse anderer Sprachen auf das Berlinische informieren. Wer weiß schon, daß das Wort „Bulette“ aus der Zeit der Napoleonischen Belagerung, abgeleitet von „boule“ (kleine Kugel) kommt, deren Fleischgehalt von vielen angezweifelt und deshalb „Kampfbrötchen“ genannt wird.

Friedhöfe, Moscheen und Synagogen, aber auch Feiertage mit ihrer Geschichte bis in die Gegenwart werden beschrieben, so daß man sich eine Vorstellung von den Bräuchen der unterschiedlichen Kulturen machen kann. Weiter werden bildende Kunst und Literatur der eingewanderten Berliner samt ihrer Rezeption unter die Lupe genommen (oft genug nur gering beachtet, wurde ihr der Stempel der Gastarbeiterkunst aufgedrückt). Die zahlreichen Beiträge befassen sich mit Kochrezepten und der Ethno-Euphorie ebenso wie mit der Beschränkung der Glaubensfreiheit vor allem der Moslems in der Bundesrepublik, mit der deutschen (Un-)Rechtsprechung und mit diversen Schulgründungen. Auch daß „Gastarbeiter“ mal Rentner werden, bleibt nicht außen vor.

Was in diesem Buch fehlt, ist der Durchschnittsmensch. Schließlich sind die wenigsten Ballettänzer, Musiker, Schriftsteller oder ähnliches. Ebenso werden ausländerfeindliche Positionen von deutscher Seite ausgespart. Beispielsweise die von Frauen, die aufgrund unangenehmer Erfahrungen von Anmache oder dergleichen auf Ausländer mit Angst und Vorurteilen reagieren. Und auch auf seiten der Immigranten gibt es ja sicher Vorurteile.

So bewegen sich die Autoren des Buches insgesamt zu sehr in der Welt der schönen Künste. Natürlich kann ein Buch nicht alles leisten, aber man merkt zu stark die Bemühung, Multikulturalität aus vornehmlich friedensbewegter Sicht zu betrachten. Dabei lösen sich gesellschaftliche Unterschiede doch auf Straßenfesten, Festivals und Uni-Aktionen nicht gleich in Wohlgefallen auf. Aber das Buch lädt mit seinem Adressenteil immerhin zum Kennenlernen vieler Orte des kulturellen Austausches ein – nicht nur zum Essengehen in einem exotischen Restaurant. Katja Winckler

Marie Lorbeer (Hg.): „Multikulturelles Berlin“, ElefantenPress 1994, 172 Seiten, 19,90 DM.