Scholz, Baracke 49

■ Buch über Sachsenhausen vorgestellt

Am Donnerstag wurde in der KulturBrauerei ein heikles Thema vor- und zur Diskussion gestellt. Aber kaum mehr als zwanzig Leute interessierten sich für die Publikation des ostdeutschen Filmhistorikers Günter Agde über das „Speziallager 107“: Sachsenhausen bei Berlin. Die sowjetische Besatzungsmacht übernahm dieses Konzentrationslager nach 1945 umstandslos für eigene Zwecke. Ehemalige Nazis und Werwölfe, aber auch für willkürlich ohne Gerichtsurteil Verhaftete, wurden hierher verschleppt.

Eigentlich bietet Günter Agdes Buch Stoff für mehrere Bücher. Er wollte aber lieber besonders viele der Themen kompakt ansprechen, nachdem das 1989 überhaupt erst wieder möglich geworden ist. Und so legt er in seinem „Lesebuch“ zahlreiche, bislang in sowjetischen Archiven unter Verschluß gehaltene Dokumente mit Anordnungen betreffs der Lagerführung vor, Studien zu den Werwölfen und dem sowjetischen Sachsenhausen- Prozeß im Jahr 1947. Ein Kapitel ist dem im Lager gestorbenen Schauspieler Heinrich George gewidmet.

Im Mittelpunkt des Buches stehen 50 handgeschriebene Briefe des Eisenbahners Hans Scholz, die er im Verlauf von eineinhalb Jahren 1945/46 im Lager Sachsenhausen verfaßte. Es gelang ihm, sie seiner Ehefrau zukommen zu lassen, er selbst starb im Lager, am 1.März 1946. Nach dem Tod ihrer Mutter entdeckten die Kinder 1988 das Briefbündel und gaben es der Gedenkstätte Sachsenhausen in Verwahrung. Christian Drummer las neun der Briefe vor – bemüht einfältig, was der pragmatischen, allein aufs Überleben ausgerichteten Haltung und dem optimistischen Tenor der Briefe nicht im mindesten gerecht wurde. Vermutlich diente der fröhliche Ton der Rücksichtnahme auf die Familie und der eigenen Selbstvergewisserung.

Agde geht davon aus, daß Scholz auch Massengräber ausheben mußte, wovon dieser in seinen Briefen natürlich nichts erwähnt. Grotesk mutet es an, wenn Scholz seine eigene berufliche Zukunft und die seiner Kinder plant und ihnen Pläne von den besten Pilzsammelgebieten aufzeichnet. Und immer wieder der Versuch, sich mit Tugenden wie Sauberkeit, Arbeit und Achtung im zwischenmenschlichen Umgang gegen Demoralisierung und Langweile am Leben zu halten. Erst in den letzten Briefen spricht er von Hunger und daß „unser Leben sich völlig ändern werde“. Ob Scholz sich während der Nazizeit etwas hat zuschulden kommen lassen, weiß man nicht.

Anschließend wurde diskutiert. Ein ehemaliger von den Nazis internierter KZ-Häftling fragte, wo denn die ganzen Täter geblieben seien. Eine Inhaftierte des sowjetischen Lagers setzte dagegen, sie jedenfalls sei unschuldig gewesen. Die Aufarbeitung dieses Themas wird noch Jahre brauchen. Ein erster Schritt ist getan. Katja Winckler

Günter Agde: „Sachsenhausen bei Berlin, Speziallager Nr.7, 1945-1950“. Aufbau TB, 1994, 16,80 DM.