Sanssouci
: Nachschlag

■ Viele Leerstellen: Veranstaltungen zum 100. Geburtstag der Publizistin Gabriele Tergit

Man muß die Feste feiern, wie sie fallen, scheint sich Jens Brüning gedacht zu haben. An ihrem 100. Geburtstag wurde Gabriele Tergit vom Herausgeber ihrer Feuilletons in gleich zwei Veranstaltungen geehrt. Tergits Zeit als Sekretärin des Londoner Exil-P.E.N. widmete sich am Freitag nachmittag die Pankower „literaturWERKstatt“, während am Abend im „Literaturhaus“ in der Fasanenstraße ihre Stimme erklang.

Jens Brüning hatte die Aufnahmen bei zwei Begegnungen im Jahr 1979 und 1981 gemacht. Gabriele Tergit, mit bürgerlichem Namen Elise Hirschmann, redete sechs Stunden lang, während er ihr eifrig Tee nachschenken mußte. In den zwanziger Jahren war die junge Frau eine der bekanntesten Journalistinnen Berlins. Schon während des Studiums schrieb die höhere Tochter Feuilletons und Gerichtsreportagen vor allem für das Berliner Tageblatt; nach der Promotion 1929 erschienen ihre Artikel auch in der Weltbühne und im Tagebuch. Bekannt wurde Gabriele Tergit 1931 durch ihren Zeitroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, die Geschichte vom Aufstieg und Fall des kleinen Varietésängers Käsebier durch die Macht der Presse. Nachdem im März 1933 ein SA-Sturm versucht hatte, in ihre Wohnung einzubrechen, floh Tergit über die Tschechoslowakei und Palästina nach England. Von 1957 bis 1981 war sie Sekretärin des Exil- P.E.N. in London.

Dieses deutsch-jüdische Schicksal erzählte Jens Brüning mit Hilfe von Artikeln (vorgelesen von Gesche Schmoll) und Tonbandaufnahmen Tergits. Die Publizistin wurde in seiner rundfunkähnlichen Montage fast zur Privatperson. Ihre politischen Ansichten, die Herkunft aus der bürgerlichen Frauenbewegung, die Beziehungen zu den Berufskollegen Ossietzky, Kerr, Olden, Sling – all das sparte Brüning aus. Einiges davon mochten sich die Besucher selbst zusammenreimen dank einer kleinen Ausstellung im Vorraum.

Kaum eine Rolle spielte das 100jährige Geburtstagskind dagegen in der Veranstaltung der „literaturWERKstatt“ – trotz des Titels „Gabriele Tergit und der Deutsche Exil-P.E.N. in London“. Weil Jens Brüning wenig zu Wort kam und die P.E.N.-Mitarbeiterin Christine Malende nichts zu sagen wußte, erzählte Arno Rheinfrank, von 1981 bis 1990 Sekretär des P.E.N., ausufernd und nur für Eingeweihte verständlich von Spannungen zwischen dem Exil-P.E.N. und den westdeutschen Schriftstellern vor 1989. Über seine Amtsvorgängerin Tergit wußte er wenig mehr zu berichten, als daß sie impulsiv und unbeschreiblich weiblich gewesen sei: „Sie trug immer Lippenstift!“ Jörg Plath

Zum Mehr- und Nach- und Weiterlesen seien folgende Bücher von Gabriele Tergit empfohlen: „Atem einer anderen Welt. Feuilletons und Gerichtsberichte“, hrsg. von Jens Brüning, Suhrkamp 1994, 14,80 DM; „Blüten der zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923–1933“, hrsg. von Jens Brüning, Rotation 1984, 20 DM, und „Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen“, Ullstein 1983, 9,80 DM.