Die Mosaikkunst und das Unkraut

„Gärten, Inbegriff der Zivilisation, sind heute wahre Todeszonen.“ Gegen unsere blockierte Zivilisation ist nur das Unkraut gewachsen. Unkrautgärten als Wiederkehr des Verdrängten  ■ Von Claudio Lange

Als erstes, nach 20 Jahren, wie im Tango, unvorhergesehene Aufzeichnungen. Dann, nach den Kordilleren, als erstes, Hügel ohne Pflanzenwuchs, kahle Weiber. Später das Meer, schamlos, unfruchtbar, Schaum ohne Wind. Was heißt es da schon, vom Zirkus Chile zu sprechen? Von Selbstmörder zu Selbstmörder. Chile, verwackeltes Bild, das die allgemeine Angst vor der Selbständigkeit bloß weitergibt, Wonnen der Unselbständigkeit. Ein guter Satz ist besser als diese einfältige, ausdrucksvolle Entfremdung. Sauber hat man zum Fluß zu kommen, um in ihm zu baden. Ganze Gebirge, bergeinwärts fliehend, wo man sie kaum wiedererkennt.

Meereskolibris, in den Sesseln des Schweigens, im überquellenden Tränenfeuer, in der wiederkehrenden, falschen Asche. Hier starb, hier beerdigte man Geschichte. Auf die chilenische Art vor die Hunde zu gehen, der Via chilensis zur Lumpenwirtschaft, in die Pfanne der Apokalypse. Poeten, neoliberale Philosophen, die sich Seiten über Seiten runterholen über eine Verständigung zwischen Unzüchtigen und Keuschen. Die Ruhe im Auge des Hurrikans, der Nichtigkeit und der Qual. Chile und die Leidenschaft für den Coitus interruptus.

Traurige Mißgestalten, Labyrinthe von Hanswürsten, die als Magie und Wissenschaft passieren. Jede Verbindung bleibt unverbindlich. In Cartagena, am Pazifik, die Videothek „Istmiregal“. Himmlische Stürme, kochender Samen, durchsichtiger Fels, Himmel aus Stein. In der Alge schimmert vielfarbig Araukanien, aufgelöst, allgegenwärtig, blendend leuchtend durch Abwesenheit. Fade blaue Salatköpfe tanzen noch immer auf der Straße, Vögel, aus Tunneln kommend, singen ein hoch auf die Französische Revolution, nach der Art der Beatles. – Apokalypse, so angenehm und so nett wie möglich. Die Toten tun schon schön. Die Tafeln des Moses hatten es gezeigt: Die Welt ist ein Frauenbauch, Zukunft abgetrieben wie die Vergangenheit. Der Tod hat diesen Krieg zwischen Impotenten erfunden, wo einer, der Salz will, zum Kellner sagen zu dürfen glaubt: Haben Sie Salz? Seit Rubén Darío haben Poeten unbezahlbare Utopien der Identität erfunden. Manch einer emigrierte. Neruda baute sich Haus um Haus, seine besten Gedichte. Der Okzident hat aufgehört, ernst zu sein, die Sache ist ziemlich ernst. Auf dem Löwenplatz tötet Löwe Krokodil.

Nun, wer weiß schon, warum. Eine weitere kollektive Erfahrung von Vergeßlichkeit und Niedertracht, Zähne ohne Kindheit. Chile, ein weiteres Sophisma, wo man nichts weiß, holt man das Fähnchen hervor. Wie viele Fähnchen in einer einzigen Ausgabe von El Mercurio! Alle Mädchen singen beim Sonnenuntergang. Chile war nie, was die Poeten gesungen. Das Licht Chiles leuchtet von 18.30 bis 20 Uhr. Adieu, eingefrorene, aufwärmbare Gefühle. Soll doch Chile die Wirklichkeit vollkommen nachahmen. Ich bin zu schwer für dieses feine, zerbrechliche Spinnennetz, dazu ohne Rat an die unaussprechlichen Geister. Adieu, bis Vater und Liebhaber gleicherweise geliebt, bis Gipfel und Quellen vereinen, statt zu trennen. Um nichts ein chilenischer Poet. Überall ist der Nenner verloren.

Und während die Neonazis die Bahnhöfe besetzen, belauere ich wieder den bedrohlichen Himmel Berlins, den seligen Wirrwarr der Zugvögel.

Man benutzt gern den Begriff Mosaik als Metapher für die multikulturelle Gesellschaft. Dabei weiß heute niemand mehr, was Mosaiken eigentlich sind. Fernsehsurfer (Zapper) sind dem Mosaik etwa so nahe wie der Marsch dem Tanz.

Anfang 1993 besuchte ich Tunesien, die Akazien blühten in jenem Licht, das Mittelmeer war kühl. Niemand sprach mehr vom Hungeraufstand, keiner konnte sagen, warum die PLO gerade dort ihre Zentrale hat. Reise plus Vollpension waren immerhin billiger als leben in Berlin. Und das Bardomuseum beherbergt eine der größten Mosaiksammlungen der Welt. Es liegt am Stadtrand von Tunis, randvoll mit römischen Mosaiken aus den Jahrhunderten nach Christus. Die kommen aus Karthagos Römervillen, das 140 vor Christus von den Römern geschleift, versalzen und schließlich ein Badeort für feine Römer geworden war. Heute liegt da der Präsidentenpalais, bei klarem Wetter sieht man die Küste von Sizilien. Man liebte damals schon einige byzantinische, islamische, römische und westchristliche Mosaiken, bis zum Bardo kannte ich noch nichts. Die Perspektive der Malerei Pompejis, Impressionismus, Porträtkunst, alles war in die Malerei der Renaissance von Rom aus zurückgekehrt. Die Mosaikmaler waren noch moderner, malten die Schatten farbig – nicht erst Rubens – oder verzichteten ganz auf Farbe, stellten schwarzweiße Strukturen her, ließen sich auf Widersprüche ihres Metiers radikal ein, mythische Inhalte, eh schon entleert, wurden unter ihren Händen endlich Dekor und der Rahmen zum neuen Inhalt. Sie malten abstrakt, seriell, spekulativ das Bild im Bild, waren geometrisch, Op-art.

Die Mosaikkunst hatte die alten Gesellschaften lange genug begleitet, sie zu vergessen war ein Skandal. Das 20. Jahrhundert erschlich sich wieder einmal eine falsche Originalität, indem es deren avantgardistische Geschichte leugnete, seine eigene Ignoranz als Errungenschaft präsentierte.

Wieder in Berlin, vermischte sich mir zunehmend monotheistisch und monokulturell. Die Gottheiten jeder Malerei sind nicht umsonst die Primärfarben, die von Skulptur das Material, jede Zeit hatte noch immer mehrere gleich große Künstler.

Ich studierte Dubuffet, Alechinsky. Ihre Rahmen-Paradoxien waren die im Bardo. Meine utopischen Unkrautgärten sind Momente der Wiederkehr verdrängter Mosaikkunst, deren Atome aber keine bunten Steinchen mehr, sondern Fotos von „Unkraut“, von gartenunwürdigen Pflanzen. Gärten, Inbegriff der Zivilistaion, sind heute wahre Todeszonen, AB- Maßnahmen um grüne Pyramiden ohne Auferstehung. Mit den Mosaiken utopischer Gärten machte ich den Versuch, durch die alte Moderne und des Unkrauts Lebenswillen unsere blockierte Zivilisation zu reflektieren, an eine nie gewesene zu erinnern.

Übersetzung und Auswahl aus dem Spanischen von Gerhard Poppenberg