"Die Sachen nicht annageln"

■ In einem der letzten Gespräche vor seinem Tod erzählt der Philosoph Paul Feyerabend von Gesangsstunden mit HHanns Eisler, vom Ergebnis seiner Derrida-Lektüre und seiner Neigung zu Platon, Willy ...

taz: Herr Feyerabend, Sie sind einer der wenigen Philosophen, die auch selber künstlerisch gearbeitet haben. Sie haben Theaterwissenschaften studiert und unter anderem als Regieassistent gearbeitet.

Paul Feyerabend: Das war gleich nach dem Krieg in Weimar. Es gab dort das „Institut zur methodologischen Erneuerung des deutschen Theaters“, das von Maxim Valentin geleitet wurde. Dort habe ich Operngesang, Regie usw. studiert. Dann hätte ich als Regieassistent zu Brecht kommen können. Ich traf ihn kurz, schaute mir eine Probe bei ihm an von der „Mutter“. Aber ich wollte dann Astronomie machen, weil mich das damals mehr interessierte. Doch ich habe auch Gesangsunterricht genommen und manchmal mit Hanns Eisler gesungen – Eisler am Klavier – und zwar Schumann und dann sozialistische Kampflieder: „Arbeiter heda...“ Wunderbar. Der Hanns Eisler war ein gelungener Mensch.

Sind Sie heute noch künstlerisch aktiv?

Puh, „künstlerisch“? Das Maul aufreißen und schreiben, das ist ja keine künstlerische Tätigkeit... Hier und da begleitet mich meine Frau zu Hause am Klavier, und ich singe Lieder.

Arbeiten Sie noch an einem größeren Werk?

Aus einem gewissen Grunde schreibe ich jetzt meine Autobiographie. 1988 hat es in Österreich eine Erinnerungsfeierlichkeit gegeben, denn 1938 ist ja Österreich besetzt worden. Ich habe sie im Fernsehen gesehen und verschiedene Artikel darüber gelesen. Da sind so allgemein humanitäre Reden gehalten worden zur Erinnerung an die Dinge, die damals geschehen sind. Aber ich denke, dieses allgemeine Gerede nützt eigentlich gar nichts! Darum ziehe ich das Theater vor. Dort wird

praktisch gezeigt, was so alles vorgeht, und man zieht seine eigenen Schlüsse. Die Leute, die damals gelebt haben, die sollten, wenn man sich erinnern will, berichten: Was haben sie gesehen? Was haben sie gedacht? Was haben sie gefühlt? Das tue ich auch, weil ich wirklich zum Erinnern beitragen möchte. Das kann man nur persönlich machen. „Kollektiv-Erinnern“? Und die junge Generation im Geschichtsunterricht erziehen? Das ist ein solcher Blödsinn! Man kann doch nicht Menschlichkeit mit allgemeinen Phrasen einpflanzen! Das geht viel besser mit Filmen oder persönlichen Erzählungen. Oder mit Romanen. Also mit der Kunst! Nicht mit dem historischen Unterricht! Der ist als alleinige Sache viel zu abstrakt. Attila, der Hunne, der hat gemetzelt. Naja, das ist weit weg.

Auch meine Kriegserlebnisse werde ich beschreiben, ich war ja in der Armee. Ich bin angeschossen worden, habe eine Kugel noch im Rückenmark. Einfach ein Bericht, nicht philosophisch überhöht. Das letzte Kapitel ist dann die Feier der Entdeckung meiner Frau, mit der ich wirklich sehr glücklich bin.

Dann schreibe ich eine kurze Geschichte – working-title: „Um die Wirklichkeit herum“ – daß man die Wirklichkeit nicht festnageln kann. Aber sie scheint den Leuten eine harte Sache zu sein. Es liegt mir viel daran, den Leuten die Wirklichkeit mehr als eine auflösbare vorzubringen, die dann wiederum in feste Gestalten zurücksinkt. Wie weit man dabei gehen darf, ist allerdings die Frage. Daß man zum Beispiel gequälte Menschen unterstützen muß, ist klar – soll man das „auflösen“?

Das habe ich meiner Frau versprochen, denn sonst würde ich nichts schreiben. Ich bin ja sehr schreibfaul. Auch die richtige Weise, zu schreiben muß ich fin

den. Ich habe viel wissenschaftliche und philosophische Literatur gelesen. Das verhunzt den Stil.

Früher wurde Ihnen immer Relativismus vorgeworfen, verbal grenzen Sie sich aber schon seit längerem vehement von ihm ab. Doch können Sie das mit dieser „Einschätzung“ der Realität noch?

„Gegen den Relativismus abgrenzen?!“ Den Relativismus halte ich für einen Blödsinn. Ich meine den einfachen, der sagt: meine Wahrheit, deine Wahrheit.

Früher konnte man aber leicht einen anderen Eindruck gewinnen...

Naja, vielleicht weil ich mich früher etwas schlampig ausgedrückt habe. Ich bin wohl einmal auf so einen naiven Relativismus hereingefallen. Aber: „Relativismus“ – „Realismus“. Die Sache ist viel komplexer. Es gibt nix, wo

man sagen kann: „So ist es!“ Es ist so, als wenn man sich mit einer einfachen Karte zurechtfinden will. Man muß sie fortwährend korrigieren. Man muß sich von einem Augenblick zum anderen durchwurschteln, wie ein Mensch ohne viel Einkommen sich von einer Mahlzeit zur anderen durchwurschtelt. So müssen sich die Leute, die denken und die nicht viel denkerisches Einkommen haben, weil man eben sehr wenig weiß, von einer Sache zur anderen hin durchwurschteln.

„Um die Wirklichkeit herum“ – empfehlen Sie damit, der Philosophie den Abschied zu geben und sich den Realitäten zuzuwenden?

Die Philosophie gibt es ja nicht. Es gibt verschiedene Philosophen mit verschiedenen Meinungen. Einige schreiben auf eine menschliche, einige auf eine unmenschliche Art. Was heißt „Abschied geben“?

Wenn sich Leute für alle möglichen Sachen interessieren, sollen sie alle möglichen Sachen lesen.

Welcher Philosoph hat Ihrer Meinung nach einen akzeptablen, menschlichen Stil?

Schwierige, wichtige Sachen, von denen etwas abhängt, muß man mit der ganz leichten Hand angreifen, nicht mit so schwerem philosophischem Geschütz. Mir gefällt viel, was Wittgenstein geschrieben hat. Andererseits war er ein Fanatiker, und das gefällt mir überhaupt nicht. Der Wittgenstein hat ja immer auf Philosophen geschimpft. Aber er war, wie soll man sagen: ein Philosoph.

Und von den neuen Philosophen? Ich hab versucht, den Derrida zu lesen. Irgendwas ist dahinter, denn mir kommt es ebengrad so vor, daß man die Sachen nicht annageln kann. Wenn ich den Derrida richtig verstehe, meint er, daß

es mit Hilfe von Worten nicht mög- lich ist, etwas besser als in einer Geschichte festzuhalten. Denn wenn man die Sache irgendwie analysiert, dann löst sich das alles langsam auf. Daß sich irgendwelche Philosophen einbilden, etwas mit Worten festgenagelt zu haben! Daß das gerade von Plato herkommt, der doch in einer ganz unfestgenagelten Weise geschrieben hat! Den Plato lese ich allerdings immer wieder mit Genuß. Allein die witzigen Dialoge, die wirklich fast schon wie Ionesco sind. Wie sich der Sokrates mit den beiden Rhetoren im Bade trifft und wie die die neue rhetorische Kunst vorführen: „Ja, früher haben wir in der Kampfestechnik unterrichtet. Aber jetzt verdienen wir viel besser, indem wir über die Tugend sprechen, und zwar indem wir eine Behauptung aufstellen oder jemanden eine Behauptung aufstellen lassen und sie widerlegen. Dann stellen wir den Gegensatz der Behauptung auf, und die widerlegen wir auch.“ Und ein ganzer Schwarm von Leuten steht herum. Ältere mit ihren jungen boyfriends, ganz offen. Und die jungen boyfriends, von ihnen wird gesagt, sie seien errötet. Die sie Liebenden stehen dahinter und sagen: „Hoffentlich blamiert er sie nicht!“ Und Sokrates sagt: „Ich bin auf deiner Seite!“ Und der Dionysos wiederum: „Wer lernt? Lernen jene, die weise sind, oder lernen jene, die nicht weise sind?“ Und dann sagt er zum Sokrates: „Was immer er sagt, wir können ihn widerlegen.“ Also eine richtige Farce, die ganz wunderbar ist.

Er gefällt mir wirklich. Auch wenn dann der „Staat“ kommt und er Politik machen will. Er läßt sich auf das sizilianische Abenteuer ein, wo er die praktische Politik überhaupt nicht durchschaut. Geht er einmal hin, geht alles drunter und drüber. Geht er noch einmal hin, weil sie ihm dort sagen: „Du hast die Verpflichtung zu kommen! Komm!“ Geht er noch einmal hin, es geht noch einmal schief.

Sollen Philosophen in die Politik eingreifen? Oder ist das ein Unheil?

Kommt auf den Menschen an. Was heißt „die Philosophen“? Fachphilosophen? Philosophieprofessoren? Schaun Sie, es war eine alte Tradition in England, daß die führenden Politiker aus Oxford oder Cambridge kamen. Die haben dort Geschichte usw. studiert, und das hat eigentlich ganz gut gearbeitet. Ich weiß nicht, wie es jetzt sein würde, wenn ein deutscher Philosoph da plötzlich eintreten würde. Naja, der Hermann Lübbe war doch...

Staatssekretär beim Kultusministerium in Nordrhein-Westfalen von 1966 bis 1969 und dann bis 1970 beim Ministerpräsidenten. Er war beleidigt und ist dann gegangen.

Ach ja, „beleidigt“. Wenn man in die Politik reingeht, darf man nicht beleidigt sein. Da muß man selber andere beleidigen.

Wie beurteilen Sie den gegenwärtigen Stand der Philosophie,

besonders der Wissenschaftsphilosophie?

Die alte Wissenschaftstheorie ist heute tot, die gibt's ja nicht mehr. Ersteinmal kam der Thomas Kuhn, aber der war immer noch theoretisch eingeengt, er hat diese abstrakten Begriffe „Paradigma“, „Vorwissenschaft“, „Revolution“ und so weiter verwendet. Die jüngeren Wissenschafstheoretiker untersuchen detailliert, was bei großen Experimenten vorgeht. Der Ausgang von experimenteller Forschung, das ist ja fast wie in der Politik. Da kommen die Gruppen zusammen und schließen sozusagen einen Vertrag darüber, ob eine Tatsache etabliert ist oder nicht. Früher, vor fast dreißig Jahren, stand alles unter dem methodischen Vorbild der Physik. Heute ist das Problem nicht „Was ist die eigentliche wissenschaftliche Methode?“, sondern: „Wie hält man diesen ganzen Laden zusammen?“ Diese reiche Welt mit den vielen verschiedenen individuellen Vorgehensweisen – wie können wir darauf allgemeine Begriffe anwenden?

Sie sagten kürzlich: Selbst die Natur sei ein Kunstwerk, ein Artefakt selbst das, was uns die Naturwissenschaftler als „Natur“ verkaufen. Gibt es dann überhaupt noch Unterschiede der Kunst zu anderen Bereichen des menschlichen Lebens? Und was wäre dann noch ein trennscharfer Begriff von Realität?

Das muß man im Detail untersuchen. Architektur zum Beispiel: Hier kann man Wissenschaft und Kunst kaum trennen. So eine Kathedrale, die darf ja nicht zusammenfallen. Das fing an mit dem Pseudo-Dionysios Aeropagita, so um 500, ein Neuplatoniker, der eine Lichtmetaphysik formuliert hat: Der liebe Gott selber, der ist unerkennbar. Das würde ich auch von der Realität meinen. Aeropagita sagt einfach: Wenn man auf den lieben Gott direkt hinsieht, sieht man das Nichts. Und das – scheint mir – ist die richtige Beschreibungsweise der Welt an sich. Es ist ja nur eine Wechselwirkung da, und bei ihm ist die Wechselwirkung die Emanation. Darauf ist der Abt Suger aus St. Denis eingegangen. Wie muß ein Gotteshaus ausschauen, so daß man dieser Lichtemanation wirklich gewahr wird? So ist der gotische Stil entstanden. Kunst, Theologie, Baustatik, das ist alles eine Sache gewesen; und die theoretische Baustatik der damaligen Zeit hat dazu überhaupt nichts zu sagen gehabt, das mußten die Praktiker machen.

Um Trennen geht es nicht. Daß es Wechselbeziehungen der Bereiche aufeinander gibt und daß das fruchtbar ist, bestreitet niemand.

„Wechselwirkung“? Warum soll es nicht eine Einheit sein? Wenn Sie „Wechselwirkung“ sagen, dann sind das ja schon verschiedene Sachen. Administrativ ist es getrennt. Aber das ist die einzige reale Trennung! Ist nicht zum Beispiel der Supercollider ein Artefakt? Das hat es früher nicht gegeben! Es gab in der Welt auch keine Laser. Das ist ein Kunstwerk, das man zusammengebaut hat für einen bestimmten Zweck. Und Künstler bauen ja auch Kunstwerke auf und sind auch auf Wirkungen aus, nur eben auf Wirkung auf das menschliche Verhalten oder auf die Seele des Menschen. Genauso wie die angewandten Wissenschaften auf Wirkung aus sind.

Sie haben betont, daß auch Kunstwerke zu Erkenntnissen verhelfen können und der Gang der Kunst mit dem der Wissenschaft eng verbunden ist. Ist Ihnen aber nicht am Ende die wissenschaftliche Erkenntnis doch das Wichtigste, obwohl Sie so oft deren Vorherrschaft kritisiert haben?

Aber woher? Das Essen ist mir sehr wichtig, und die Liebe ist mir sehr wichtig. Erkenntnis und Wissenschaft das Wichtigste? Keine Spur! Schaun Sie, mir ist es viel wichtiger, daß Leute, die unglücklich oder melancholisch sind, ein bißchen zum Lachen gebracht werden. Darum ist mir der Willi Millowitsch sehr wichtig. Der macht Komödien, wo die Leute im Auditorium sitzen und lachen. Da können sie befreit werden. Ich bin oft ins Freistilringen gegangen in San Francisco und habe mir die Leute angeschaut. Die sind mit dem Auto hingefahren und haben zuerst finster dort gesessen. Drinnen haben sie sich so langsam gelöst: „Bring ihn um!“ – „Kill him!“ Dann sind sie hinausgerannt, haben miteinander angeregt gesprochen. So was gefällt mir. Ist es gut verstandene Kunst, wenn die Leute hinterher hinausgehen, mit dem Elend der ganzen Welt beladen? Naja, vom Elend der Welt soll man nicht schweigen, aber mit etwas Hoffnung dazu! Das ist mir viel wichtiger als Erkenntnis – zum Teufel mit der Erkenntnis! Das Gespräch führten

Klaus Sommer und

Thomas Sturm/Faktum

Folgende Titel von Paul Feyerabend sind derzeit lieferbar:

„Ausgewählte Schriften. Bd. 1: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften, Vieweg Verlag 1978, 368 Seiten, 42 DM; Bd. 2: Probleme des Empirismus“, Vieweg Verlag 1981, 472 Seiten,

48 DM

„Erkenntnis für freie Menschen“, Suhrkamp Verlag 1980, 272 Seiten, 18 DM

„Wissenschaft als Kunst“, Suhrkamp Verlag 1984, 200 Seiten,

12 DM

„Wider den Methodenzwang“, Suhrkamp Verlag 1986, 423 Seiten, 24 DM

„Irrwege der Vernunft“. Aus dem Englischen von Jürgen Blasius, Suhrkamp Verlag 1989, 400 Seiten, 48 DM

„Über Erkenntnis. Zwei Dialoge“, Campus Verlag 1992, 200 Seiten, 28 DM

„Die Natur als eine Kunst“, in: Wolfgang Welsch (Hg.): „Die Aktualität des Ästhetischen“, Wilhelm Fink Verlag 1993, 443 Seiten, 48 DM