Politik des Geistes

■ Eine Diskussion zum Abschluß der sechsbändigen Ausgabe von Paul Valérys „Cahiers/Heften“ in Frankfurt/Main

Jeden Morgen steht Paul Valéry um 5 Uhr in der Frühe auf, um den Moment des Erwachens als Klärungsprozeß zu nutzen. Statt Frühsport treibt Valéry über 50 Jahre lang etwa ein bis zwei Stunden gymnastische Schreibübungen, bei denen sich sein Körper lockert, und der Geist zu sich selbst kommt. Valéry horcht in die Stille des Morgens, er schreibt in den Tag hinein, bevor er zur Lohnarbeit aufbricht und seine Intelligenz beim französischen Kriegsministerium abgibt. Er notiert alles, was ihm einfällt, und häuft so etwa 28.000 Seiten an. Ein Sammelsurium über Gott und die Welt könnte da vermutet werden. Aber seine Cahiers, seine Hefte, sind keine „Sudelbücher“, sondern Konzentrationsübungen, sie enthalten erst recht keine intimen Bekenntnisse.

Die französischen und deutschen Herausgeber haben die Notate nach Themen geordnet. Valérys Chaos ist kanalisiert worden. Die Trassenführung ist wissenschaftlich erprobt und zu bewundern. Trotz einer gewissen Willkür hat sie den Vorteil, Orientierung zu bieten. So kann jeder sich einen bestimmten Aspekt, sagen wir die Zeit, das Biologische, oder den Eros, herausgreifen, um Valérys Gedankenexperimente zu testen.

Auf einer Podiumsdiskussion im Fischer-Verlagshaus sollten die Chancen einer „Politik des Geistes“ nach Valérys Vorgaben erkundet werden. Die einführenden Referate der Frankfurter Literaturwissenschaftler Ralph-Rainer Wuthenow und Eckhardt Köhn setzten zwar einen gewissen biographischen und ideengeschichtlichen Rahmen. Aber dem enthusiastischen Valéry-Liebhaber Günther Busch, der als Lektor bei Fischer die hervorragende Edition der „Cahiers“ mit Argusaugen überwacht, waren die Statements zu trocken und schlapp. Busch spitzte die Diskussion zu auf die Frage, warum der französische Denker und Dichter in Deutschland nie richtig Anklang fand. Valéry, der die kühle Sachlichkeit, den eisernen Willen und die deutsche Energie eines Grafen Moltke vorbildlich fand, später aber in seinem berühmten Fazit über den Ersten Weltkrieg die „Krise des Geistes“ darin erkannte, daß Tugenden der Disziplin und des Wissens in Laster umschlagen können, daß „auch wir Zivilisationen sterblich sind“. Valéry stieß im Deutschland der zwanziger bis fünfziger Jahre rundweg auf Ablehnung. Damals setzten die deutschen Intellektuellen auf die Seele als Widersacher des Geistes, auf die Gefühle und das Geniale, die göttliche bis völkische Inspiration des Dichters. Ausnahmen bildeten nur Ernst Robert Curtius, Max Rychner, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, wie Thomas Regehly und Eckhardt Köhn hervorhoben.

Valérys Denken entziffert noch am besten der deutsch-französische Philosoph Heinz Wismann, der vom Institut Français aus Paris eingeladen wurde. Wismann gehört zu den Phänomenen des französischen Wissenschaftsbetriebs. Er hat kaum etwas veröffentlicht, hält aber häufig Vorträge, die er ohne Manuskript gleichsam beim Reden verfaßt. Für Valéry, so Wismann, war Dichten weder ein Beten noch ein Ausdruck des Wunderbaren, sondern kühle Berechnung. Er bannte die Ungeheuer, die seine surrealistischen Gegner aus ihren Traumgesichten hervorzauberten, in einen gehegten Park mit klaren Formen. Valéry verabscheute den abgeschlossenen Systemgeist des deutschen Idealismus und war doch selbst ein systematischer Geist.

Nach Wismann war Valéry ein Konservativer, der den Geist gegen den Trieb behauptete, die Demokratie als die Verführung der Dummen verachtete, aber ein Revolutionär in Fragen der ästhetischen Form, ganz im Sinne der deutschen Frühromantik von Schlegel und Novalis. Das Denken und Schreiben der ersten deutschen Romantik nämlich war subversiv und ironisch zugleich, indem es in unendlicher Reflexion alles Überkommene, Festgelegte brach und im Experiment das Offene, Unabgeschlossene suchte.

„Die Moderne ist nicht durch einen definitiven Vorgriff auf einen Endzustand zu charakterisieren. Das wäre ja geradezu archaisierend, denn jede Gewißheit – selbst wenn man sie in die Zukunft als Utopie projiziert, wie es viele revolutionäre Bewegungen getan haben – ist in Valérys Augen archaisch und unmodern. Was er das Klassische nennt, nämlich den griechischen, autorisierten Zweifel an aller etablierten Gewißheit, eben das ist wiederum modern.“

Heinz Wismann rückte Valéry in die Nähe des österreichischen Seeleningenieurs Musil, sein „Monsieur Teste“, dieser Kopf- und Möglichkeitsmensch, dieser beobachtende „Zeuge“ ist ein Bruder des „Manns ohne Eigenschaften“. Valéry, ein Europäer, der sich keiner Überzeugung verschreibt.

Ein Resumée, auf das die zahlreichen Zuhörer im Fischer-Verlagshaus geduldig warteten. Das editorische Wagnis, Valérys Lebenswerk, seine Logbücher des Denkens, auf sechs Bände einzudampfen, hat sich gelohnt, wenn es zu weiteren ähnlichen Aperçus und Lesarten anregt. Ruthard Stäblein