Von Verständnisinnigkeit und Ignoranz

■ Die strafrechtliche Ahndung von Staatskriminalität: Rechtsprobleme in NS-Verfahren und in Verfahren gegen Partei- und Staatsfunktionäre der DDR

Berlin (taz) – In der DDR war er 1957 zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Als der Philosoph Wolfgang Harich Jahrzehnte später als Zeuge gegen seinen ehemaligen Richter aussagen sollte, verweigerte der 70jährige die Aussage. Die Strafjustiz, so Harich, sei nicht geeignet, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Oberstaatsanwältin Helge Grabitz aus Hamburg, die sich seit den fünfziger Jahren mit der Verfolgung von NS-Verbrechern beschäftigt, sieht das, bezogen auf die nationalsozialistischen Verbrechen, anders. „Die verschlafenen Historiker“, so Grabitz bei der Veranstaltung zum Thema: „Strafrechtliche Ahndung von Staatskriminalität“, „haben später auf die Akten aus unseren Prozessen zurückgegriffen, für die historische Aufklärung waren sie maßgeblich.“ In den fünfziger Jahren hätten sich weder Richter noch Historiker mit den NS-Verbrechern beschäftigt. Prozesse kamen grundsätzlich nicht von Amts wegen zustande, sondern nur auf Anzeige Privater. Staatsanwälte und Richter wollten „ihre eigene Vergangenheit nicht vor Gericht behandelt sehen“. Das änderte sich erst, als „wir fertig studiert hatten“. Aber auch dann waren die jungen Juristen schweren Vorwürfen ausgesetzt. „Warum kümmern Sie sich nicht um ihre Karriere, anstatt in diesem Dreck herumzuwühlen?“ Erst nach der Gründung der Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechern in Ludwigsburg 1958 ging die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechern langsam los.

Was kam dabei heraus? Bis heute sind in der Bundesrepublik lediglich 6.500 NS-Verbrecher rechtskräftig verurteilt worden. In der DDR hingegen wurden insgesamt 12.881 Täter abgeurteilt. In dieser Zahl jedoch sind die knapp 5.000 Verurteilungen während der Waldheimer Prozesse in den fünfziger Jahren enthalten, Schnellverfahren gegen angebliche Nazis, bei denen auch massenhaft Unschuldige zu absurden Strafen verurteilt wurden.

Vor allem die NS-Richter blieben in der Bundesrepublik von der strafrechtlichen Sanktion verschont. Kein einziger von ihnen wurde für die 15.000 Todesurteile gegen Zivilisten und die 10.000 Todesurteile von Militärgerichten von einem bundesdeutschen Gericht zur Verantwortung gezogen. Die Argumentation der Gerichte war die immer gleiche. Nur wenn den Richtern „Unrechtsbewußtsein“ nachzuweisen wäre, dürften sie wegen Rechtsbeugung verurteilt werden. In ihrer innigen Verbeugung vor den nationalsozialistischen Perversionen hatten sie damit einen immergültigen Freibrief. Mit absurder „Verständnisinnigkeit“, so Hubert Rottleuthner, Professor für Rechtssoziologie an der Freien Universität in Berlin und Diskussionsleiter des Abends, haben sich bundesdeutsche Richter sich in einen der größten Verbrecher, den beisitzenden Richter an Freislers Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse hinein versetzt, seine Überzeugung an den unglaublichsten Ausbrüchen der Rechtsprechung nachvollzogen – und freigesprochen. Und die Richter der DDR? Gerade ist wieder ein Urteil des Bundesgerichtshofs in Sachen Rechtsbeugung von Richtern ergangen. Danach dürfen Richter nur dann wegen Rechtsbeugung verurteilt werden, wenn die Urteile von damals „Willkürakte“, Exzesse also, gewesen seien. Was sich noch im Rahmen der DDR-Gesezte abspielte, ist nicht strafbar.

Um all diese Probleme ging es am vergangenen Freitag im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Doch die eingehende theoretische Behandlung kam zu kurz. Zu groß war die Empörung der Zuhörer über die Ignoranz der Justiz gegenüber den ungezählten Rechtsverletzungen in der DDR, als daß noch Raum gewesen wäre für die dogmatische Erörterung der rechtlichen Probleme. Wer jedoch meint, daß das Thema „Vergangenheitsbewältigung“ die Bürger nicht mehr interessiert, wurde eines Besseren belehrt. Der große Kinosaal war übervoll. Vor allem ehemalige DDR-Bürger waren gekommen, um die Staatsanwaltschaft anzuklagen, die sich nicht um die Rechts- und Ehrverletzungen unzähliger Bürger und Bürgerinnen sorge. Ist es nicht heute wie damals? äußerte sich das Mißtrauen. Werden nicht wieder nur die Kleinen gehängt? Angesichts dieser Vorwürfe konnte nicht geklärt werden, wo die Unterschiede zwischen den beiden Systemen liegen und wie diese Unterschiede sich in der strafrechtlichen Beurteilung niederschlagen müßten.

Dabei sind die Bedingungen der strafrechtlichen Bearbeitung erstaunlich gut. Sämtliche Archive sind zugänglich. Das Material zu Hauf vorhanden. Die staatlichen Stellen sind von Anfang an damit beauftragt worden, tätig zu werden.

Die „Arbeitsgruppe Regierungskriminalität“ am Landgericht Berlin hat über sechzig Mitarbeiter, von denen einer, Karl- Heins Debes, als Diskutant geladen war. Immer wieder wurde er angegriffen, weil er und seine Arbeitsgruppe gegenüber den ungezählten Verbrechen, die in der DDR geschehen seien, ignorant wäre. Als Debes dann sagte, daß er von den Opfern Objektivität bei der Beurteilung ihrer eigenen Fälle erwarte, war er endgültig als „Jurist“ diskreditiert, der mit einem „Menschen“ nur Äußerlichkeiten gemein habe. Und auch seine Verteidigung, daß „die strafrechtliche Ahndung die Opfer nicht zufriedenstellen kann“, konnte kein Verständnis erwecken. Eine Frau aus dem Publikum erzählte von der Befriedigung, die der erste Nürnberger Alliierten-Prozeß bei ihr und ihrer Familie ausgelöst hatte. „Die Nürnberger Prozesse waren bei meinen Angehörigen die Befriedigung. Als wir im Radio hörten: ,death bei hanging‘, das war eine Genugtuung.“ Julia Albrecht